TK: Die Corona-Pandemie hat uns seit über einem Jahr fest im Griff. Die Universitätsmedizin Greifswald koordiniert die Versorgung innerhalb des regionalen Clusters. Wie läuft diese Koordinierung ab und welche Aufgaben liegen in Ihren Händen?

Dr. Matthias Gründling: Vor über einem Jahr hat das Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Gesundheit Mecklenburg-Vorpommern eine regionale Clusterstruktur für die vier Häuser Universitätsmedizinen in Greifswald und in Rostock, Helios Schwerin und dem Dietrich-Bonhoeffer-Klinikum in Neubrandenburg ins Leben gerufen. Dieses professionelle Management koordiniert seitdem die intensivmedizinische Behandlung von Schwererkrankten. Über die Steuerung der Cluster ist die Versorgung dieser Patienteninnen und Patienten über die Maximalversorger gesichert. Zudem steuern die Clusterkrankenhäuser in ihren Einzugsgebieten in tagesaktueller Abstimmung selbstständig die Patientenströme, ja nach erforderlicher Versorgung.

Auch viele andere Abstimmungen erfolgten über das Clustermanagement, u. a. mit Rehakliniken, dem Rettungsdienst, dem ambulanten und stationären Pflegedienst. Hier wurde mir als Intensivmediziner erstmalig bewusst, wie viel unterschiedliche Gesundheitsstrukturen es gibt. Über die Clusterstruktur stimmten wir zudem Teststrategien und Besucherregelungen ab. Aber auch Diagnostikverfahren und Behandlungsmöglichkeiten. Diese Informationen haben wir allen angeschlossenen neun Häusern zur Verfügung gestellt.

Über die Steuerung der Cluster ist die Versorgung dieser Patienteninnen und Patienten über die Maximalversorger gesichert.

Dr. Matthias Gründ­ling

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Leiter der Arbeitsgruppe Klinische Sepsisforschung der Klinik für Anästhesiologie der Universitätsmedizin Greifswald

TK: Sie unterstützen seit dem vergangenen Herbst Corona-Infizierte mit einer durch das Bundesgesundheitsministerium finanzierten App. Wie funktioniert die App und welche Erfahrungen haben Sie gemacht?

Dr. Gründling: Ja, seit letztem Herbst, mit der zweiten Welle der Pandemie, haben wir in Greifswald diese vom BMG finanzierte App bei positiv getesteten Menschen zur Symptomkontrolle eingesetzt. Nicht immer lässt sich der Zustand der Erkrankten mit konservativen diagnostischen Maßnahmen abschließend bewerten, vor allem bei Coronapatienten, die kaum Beschwerden hatten. Wir sprechen hier von einem stillen Sauerstoffmangel, der stillen Hypoxie. Deshalb war es wichtig, die Sauerstoffsättigung mit einem Pulsoxymeter zu überwachen. Mit dem Ziel, intensivmedizinische Behandlungen zu reduzieren. Wir konnten rechtzeitig reagieren, da uns die Vitalparameter und Symptome je nach Schwere angezeigt wurden. Diese Daten sind in unserer ständigen Überwachung. So vereinfachte die App die Kommunikation.

In unserem Haus war die Übermittlung  des positiven Befundes mit einem Hinweis auf die App verknüpft. Stimmten Betroffene der Nutzung zu, erhielten sie die Zugangsdaten. Die App wurde selbständig aus dem Internet heruntergeladen und eingerichtet. Des Weiteren erfuhren die Patientin und der Patient, in welchem Krankenhaus der Pulsoxymeter zur Abholung stationiert ist. Die App ist leicht in der Handhabung. Betroffene geben Symptome und Messergebnisse ein und so kommen sie dann zur Fernüberwachung zu uns.

306 Patienten wurden bisher ambulant über den Sepsisdialog betreut. Ca. 15 Erkrankte haben wir aufgrund der Werte stationär einweisen müssen. Wir haben so eher erkannt, dass Patientinnen und Patienten mit einem schweren COVID-19-Krankheitsverlauf wegen eines Lungenversagens auf der Intensivstation behandelt werden müssen. Dieser Symptome ähneln sehr einer Sepsis, deshalb sind wir vom Sepsisdialog-Team hier unterstützend aktiv geworden. Leider konnten wir die potentiellen Nutzer (Patienten) nicht aktiv ansprechen und auf die App hinweisen, da wir als Sepsisdialog aus Gründen des Datenschutzes die Kontaktdaten der Personen nicht von Gesundheitsamt oder dem Testlabor erhalten haben. Ohne dieses Datenschutzprobleme hätte sicherlich vielen Menschen mehr mit der App geholfen werden können, die so einfach nicht über diese Möglichkeit informiert waren.

Ohne dieses Datenschutzprobleme hätte sicherlich vielen Menschen mehr mit der App geholfen werden können, die so einfach nicht über diese Möglichkeit informiert waren.

TK: Sepsis ist ein gutes Stichwort und ja, die Corona-Pandemie ist eine zentrale Herausforderung in diesen Tagen. Dennoch dürfen wir auch dieses wichtige Thema nicht aus den Augen verlieren. Sie engagieren sich seit Jahren für die Sepsisdiagnostik und -behandlung. Sie haben auch den "Sepsisdialog" ins Leben gerufen. Erzählen Sie uns bitte etwas darüber.

Dr. Gründling: Vor über zehn Jahren wurde der Sepsisdialog begonnen. Wir wollten darauf hinweisen, das Sepsis ein Notfall ist, aber leider dieser Notfall nicht so gut diagnostiziert und behandelt wird wie ein Schlaganfall oder Herzinfarkt. Es liegt daran, diese Erkrankung richtig zu erkennen. Schulungen waren unser Erfolgsrezept. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wurden immer wieder für dieses Krankheitsbild sensibilisiert. Für uns galt der Grundsatz: Jeder kritisch Erkrankte könnte auch eine Sepsis haben.

Wie erkenne ich eine Sepsis, wie diagnostiziere und behandle ich diese Krankheit? Diese Fragen verinnerlichte jeder unserer Beschäftigten. Unser Vorteil bei der Umsetzung des Projekts war, dass der Vorstand der Universitätsmedizin uns dafür den Rücken stärkte und dafür auch eine Sepsis-Schwester von der Universitätsmedizin finanziert wurde, die sich um die Qualitätsparameter und um Schulungsangebote kümmert.

Das regelmäßige Screening von Risikopatienten, wie z. B. Menschen mit typischen Grippesymptomen, etwa in der Notaufnahme ist sehr hilfreich. Wir halten eine rund um die Uhr verfügbare Blutkulturdiagnostik, deren Abläufe auf den zeitkritischen Ablauf einer Sepsis abgestimmt sein müssen, zur Sepsisdiagnostik für unverzichtbar. Das sollte Standard in allen Klinken werden.

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wurden immer wieder für dieses Krankheitsbild sensibilisiert. Für uns galt der Grundsatz: Jeder kritisch Erkrankte könnte auch eine Sepsis haben.

TK: Hat dieser Dialog dazu beigetragen, die doch sehr hohe Sterblichkeitsrate in Deutschland zu senken?

Dr. Gründling: In Greifswald auf jeden Fall. Bundesweit arbeiten 60 Kliniken in einem Sepsis-Qualitästbündnis zusammen, mit dem Ziel, beste Qualität bei der Sepsis-Behandlung umzusetzen. In diesem Verbund wird aufgrund der Abrechnungsdaten eine vorhergesagte Sterblichkeit (aktuell ca. 43-45 Prozent) berechnet. Diese ist bei den anderen Häusern identisch mit der tatsächlichen Sterblichkeit. In Greifswald hingegen ist die Sterblichkeit gesunken. Die tatsächliche Sterblichkeit liegt hier zwischen 7 bis 10 Prozent niedriger als die vorhergesagte. Wir sind davon überzeugt, das in unserem Haus eine Sepsis schneller erkannt wird.

Aufgrund der Coronapandemie haben wir eine Sepsisakademie ins Leben gerufen, die bundesweit als Online- Schulung angeboten wird. Sie wird sehr gut angenommen und lässt erkennen, dass dieses Thema von großem Interesse ist.

TK: Können Sie allgemeine Hinweise zu den Symptomen geben, die auf eine Sepsis hinweisen?

Dr. Gründling: Die Symptome sind einfach sehr unspezifisch. Plötzlich auftretendes hohes Fieber mit Schüttelfrost sollte jedem bekannt sein. Aber auch beschleunigte Atmung, schnellerer Herzschlag, niedriger Blutdruck und schwacher Puls sind Symptome dafür. Patientinnen und Patienten fühlen sich extrem krank. Auch eine neu aufgetretene Verwirrtheit, Schläfrigkeit bis hin zur Bewusstlosigkeit können auftreten, als Zeichen des Organversagens am Gehirn. Aber auch eine nachlassende Urinausscheidung kann auftreten. Das alles sind unspezifische Zeichen, die es erschweren, diese Krankheit zu erkennen.

TK: Vor kurzem wurde die Kampagne "Deutschland erkennt Sepsis" gestartet. Welche Erwartungen haben Sie daran?

Dr. Gründling: Die Kampagne "Deutschland erkennt Sepsis“ wurde vom Aktionsbündnis Patientensicherheit gemeinsam mit der Sepsis-Stiftung, dem Sepsisdialog und der Deutschen Sepsis-Hilfe ins Leben gerufen. Die Unimedizin Greifswald ist als einzige Klinik bundesweit beteiligt. Ziel ist es, das Wissen über Sepsis und ihre Symptome in der Bevölkerung und bei medizinischem Personal zu verbessern. Aufklärung ist für alle nötig! Damit ist nicht nur das medizinische Personal der Kliniken gemeint, sondern schließt auch Pflegeeinrichtungen, Rettungsdienste, Rehaeinrichtungen, den ambulanten Bereich und auch die Bevölkerung mit ein. Wir haben die Webseite deutschland-erkennt-sepsis.de eingerichtet. Dort sind zahlreiche Informationsmaterialien zur Sepsis, den typischen Warnzeichen und den Verhaltensregeln im Notfall zu finden. Ich möchte auch auf den Aufklärungsfilm „Sepsis: Gönn dem Tod ne Pause“ hinweisen.

Nach dem Start im Februar, erzielte die Kampagne schnell bundesweite Aufmerksamkeit. Daraufhin hat das Bundesministerium für Gesundheit sich entschieden, diese Initiative auch finanziell zu unterstützen. Dadurch haben wir als Sepsisdialog die Mittel, ein komplettes Ausbildungscurriculum zu erstellen. Wir werden es allen Kliniken kostenlos zur Verfügung zu stellen.

TK: Sie sind ein vielbeschäftigter Mann, dennoch haben Sie ein interessantes und zeitaufwendiges Hobby: die Fotografie. Haben Sie eine Kamera immer dabei oder gehen Sie ganz bewusst auf Motivsuche? Verraten Sie uns Ihre Lieblingsmotive?

Die Kampagne „Deutschland erkennt Sepsis“ wurde vom Aktionsbündnis Patientensicherheit gemeinsam mit der Sepsis-Stiftung, dem Sepsisdialog und der Deutschen Sepsis-Hilfe ins Leben gerufen.

Dr. Gründling: Wenn Sie mich so fragen, ich sollte die Kamera viel häufiger dabei haben. Aber ich gehe schon gezielt meinen Motiven nach, besonders Naturaufnahmen sind für mich immer wieder etwas ganz Besonders. Vor allem beim Licht am Morgen oder in der Abenddämmerung fange ich besondere Momente auf der wunderschönen Insel Usedom ein. Hier bin ich geboren, aufgewachsen und auch geblieben - hier kann ich komplett abschalten.

Ganz ehrlich ich bin eine Netzwerker, dass spüre ich auch beim Fotografieren. Ich kenne die Menschen auf der Insel, aus dem Tourismus oder auch andere Fotointeressierte. Wir organisieren gemeinsam Veranstaltungen. Das Zusammenarbeiten macht einfach viel Freude und Spaß und sorgt für Ausgleich.

Lassen Sie uns im Gespräch bleiben, Deutschland muss Sepsis erkennen. Vielen Dank, dass Sie mit mir über dieses Thema gesprochen haben.

Zur Person 

Der Greifswalder Intensivmediziner PD Dr. Matthias Gründling kümmert sich seit Jahren um die Aufklärung zur Sepsis. Seit 2006 leitet er das Qualitätsmanagementprojekt Sepsisdialog und ist Leiter der Arbeitsgruppe Klinische Sepsisforschung der Klinik für Anästhesiologie der Unimedizin Greifswald. Nach der Promotion hat er sich wissenschaftlich mit schweren Infektionen und der Sepsis beschäftigt. Er ist Gründungsmitglied der Deutschen Sepsisgesellschaft e.V. (DSG). Als Sepsis-Spezialist ist er Mitglied der Leitlinienkommission des DSG und der Studienleitkommission der SepNet-Studiengruppe.

Der Mediziner ist mit der Unimedizin Greifswald als einzige Klinik bundesweit an der Kampagne "Deutschland erkennt Sepsis" beteiligt. Mit seiner Familie lebt er auf der Insel Usedom.