"Das Potenzial von KI-Systemen in der Pflege ist noch weitgehend ungenutzt."
Interview aus Bremen
Im Verbund mit mehreren wissenschaftlichen Institutionen forscht das Bremer Institut für Public Health und Pflegeforschung (IPP) zum Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) in der Pflege. Im Interview berichtet Prof. Dr. Karin Wolf-Ostermann über mögliche Einsatzgebiete, notwendige Kompetenzen und Skepsis wie auch Neugierde bei den Teilnehmern.
TK: Seit April dieses Jahres arbeiten Sie im Sondierungsprojekt zu KI in der Pflege (SoKIP). Worum geht es dabei inhaltlich?
Professorin Karin Wolf-Ostermann: Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Projekt wird von der Universität Bremen gemeinsam mit dem Einstein Center Digital Future (ECDF) der Freien Universität Berlin und dem Verband für Digitalisierung in der Sozialwirtschaft e.V. (vediso) durchgeführt und zielt darauf ab, den Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) in der Pflege zu erschließen.
Im Projekt interessieren wir uns für Bedarfe, Anwendungsszenarien, Voraussetzungen aber auch für wichtige Rahmen- und Gelingensbedingungen für Forschung und Entwicklung im Themenfeld KI in der Pflege. Ziel von SoKIP ist die Erarbeitung eines Konzeptes zur Einbettung von KI-Systemen in der Pflege unter Einbezug der Perspektiven verschiedener Stakeholdergruppen. SoKIP interessiert sich dabei besonders für KI-Systeme, die für den Einsatz in der Pflege gedacht, entwickelt, erprobt oder eingeführt sind. Das bedeutet, dass Pflegefachpersonen, Pflegeeinrichtungen, Pflegebedürftige, pflegende Angehörige und informell Pflegende entweder direkte Nutzer*innen des Systems sind, oder das System darauf abzielt, für diese Personengruppen Effekte zu erzeugen oder von diesen oder anderen Personengruppen erzeugte Daten dazu nutzt, um die vorgenannten Ziele zu verfolgen. Ebenso sind aber auch "Grenzfälle" von Interesse, bei denen es eher um Prävention oder selbstbestimmtes autonomes Leben geht.
Das Projekt SoKIP trägt so dazu bei, Einstiegshürden für die Entwicklung, Forschung und Implementierung von KI-Systemen in der Pflege abzubauen und Anwendungsszenarien für die Unterstützung von Pflegetätigkeiten durch KI-Systeme zu explorieren. Durch die Verknüpfung sowohl quantitativer als auch qualitativer Methoden der Datensammlung und Analyse mit einer Schwerpunktsetzung auf ein partizipatives, offenes Vorgehen, soll das Projekt die interdisziplinäre Zusammenarbeit fördern und Hinweise zu Best-Practice-Beispielen liefern, die einen Community-Ansatz stärken und dazu beitragen, das Bewusstsein für das Thema KI-Systeme in der Pflege in Fach- und Praxiscommunity zu erhöhen.
Bislang keine eindeutige Definition von KI in der Pflege
TK: Digitale Assistenzsysteme wie zum Beispiel Pflegeroboter oder Sturzsensoren sind vom Begriff her geläufig und zum Teil schon in Gebrauch. Welche Anwendungsszenarien für KI-Systeme in der Pflege gibt es und an welchen Stellen erscheint ein Einsatz besonders vielversprechend?
Professorin Wolf-Ostermann: KI bezeichnet Systeme, die mit einem "intelligenten" Verhalten ihre Umgebung analysieren und mit einem gewissen Grad an Autonomie handeln, um bestimmte Ziele zu erreichen. Grundlage für die Funktion eines solchen KI-Systems sind immer Informationen in Form von Daten. Diese Daten nutzt das System, um entweder rein virtuell etwa Muster zu erkennen, Bilder, Sprache, Text oder Zahlen zu analysieren, um zum Beispiel Entscheidungen zu unterstützen, Vorhersagen zu treffen oder Prozesse zu steuern. KI-Systeme finden sich aber etwa auch in sogenannten selbstfahrenden PKWs oder eben auch Robotern. Eine Abgrenzung von KI in der Pflege zu KI in der medizinischen Diagnostik und Therapie, etwa zur Überwachung und Vorhersage von Blutzucker- oder Blutdruckwerten, oder KI in der Prozessteuerung von Krankenhäusern, wie die Steuerung perioperativen Arbeitsabläufen oder zur Steuerung von Prozessen in einer Notaufnahme, aber auch zu KI in einem intelligenten Wohnumfeld, wie KI unterstütztes Kochen oder Aktivitätstracking, ist nicht einfach. Bislang gibt es keine eindeutige Definition von KI in der Pflege.
Obwohl digitale Technologien selbst seit mehreren Jahren zunehmend für die Anwendung in der Pflegepraxis entwickelt und beforscht werden, finden sich in der internationalen Literatur mit Blick auf KI-Systeme bislang vorrangig Forschungsarbeiten zu robotischen Systemen. Für den Einsatz von KI-Systemen im Hinblick etwa auf komplexe Entscheidungsunterstützung in der Pflege scheint ein bislang noch weitgehend ungenutztes Potential zu bestehen. Daneben birgt die Anwendung von KI möglicherweise besonders Potential, das Pflegepersonal bei patientenfernen Tätigkeiten zu unterstützen. Ebenso sind Anwendungsszenarien für die direkte Unterstützung pflegebedürftiger Menschen selbst sowie deren Angehörigen von Interesse, für die bereits seit einigen Jahren Erprobungserfahrungen von KI-Systemen aus verschiedenen Settings vorliegen. Inwiefern diese Lösungen jedoch praxistauglich sind und den speziellen Anforderungen in der Pflege gerecht werden, ist noch nicht ausreichend erforscht.
TK: Welche vorhandenen wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt es bereits, auf denen Sie Ihre Forschungsarbeit aufbauen können?
Professorin Wolf-Ostermann: Wir erstellen aktuell einen Literaturüberblick zu (inter)nationaler Forschung und haben bei unseren Recherchen einige typische Anwendungsfelder identifizieren können. Bei der Anwendung von KI in der Pflege geht es zum Beispiel darum, die direkte pflegerische Versorgung zu unterstützen. Dabei kommen etwa intelligente Rollatoren oder Betten zum Einsatz oder es geht um die Erkennung von Fehlalarmen. Bei der Organisation von Pflege und von Versorgungsprozesse wird KI zum Beispiel zur Dienst- und Tourenplanung oder Pflegprozessteuerung eingesetzt. Bei Menschen mit Pflegebedarf oder Patientinnen und Patienten und deren Angehörigen geht es oft um das Monitoring von Aktivitäten oder Vitalwerten oder das Erkennen von Symptomen oder von Ereignissen wie Stürzen. Aber auch der Wissenstransfer und die Ausbildung von Pflegefachpersonen können durch KI unterstützt werden, indem etwa Wissen aus Leitlinien für ein spezielles Pflegeproblem zeitnah für die Unterstützung von klinischen pflegerischen Entscheidungen nutzbar gemacht wird. Im Bereich der Prävention kann KI helfen, Risiken, etwa für Stürze oder Druckgeschwüre oder eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes, zu erkennen.
Bislang wenig Digitalisierung in Pflegeeinrichtungen
TK: Was sind die größten Hürden bei der Entwicklung und Implementierung von KI-Systemen in der Pflege?
Professorin Wolf-Ostermann: Die Verfügbarkeit einer qualitativ hochwertigen und repräsentativen Datengrundlage ist ganz generell entscheidend für die erfolgreiche Entwicklung von KI-Systemen. Neben Individualdaten, deren Erhebung mit einem hohen Zeit- und Ressourcenaufwand einhergeht, sind vor allem pflegerische Routinedaten interessant. Hier haben wir aber das Problem, dass diese in vielen Pflegeeinrichtungen aber auch Krankenhäusern nur in Teilen digital und bis auf wenige Ausnahmen in unstandardisierter Form vorliegen. Diese Daten müssen also für Forschung erstmal in nutzbare Formate überführt werden. Dies kann, neben einer generell eher schleppend verlaufenden Digitalisierung in Pflegeeinrichtungen, eine Hürde darstellen.
Forschungsprojekte zu KI in der Pflege, aber auch zu Technik in der Pflege, sind dadurch gekennzeichnet, dass die beteiligten Personengruppen – wie Pflegefachpersonen, Pflegebedürftige, Angehörige – eingebunden werden. Ob diese Einbindung gut gelingt hängt oft ganz wesentlich von einer guten und engen Kommunikation zwischen den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und den Teilnehmenden aber auch für Pflegeeinrichtungen und Krankenhäuser von der Bereitstellung finanzieller, materieller und personeller Ressourcen ab. Dies angemessen in der Planung, Durchführung und späteren Verstetigung von Projekten zu berücksichtigen, ist eine weitere, wichtige Herausforderung. Patientinnen und Patienten sowie Pflegefachpersonen aber auch Informatikerinnen und Entwickler beschreiben uns, dass sie sich oft eine Art "Übersetzer" wünschen, um die jeweils andere Seite und ihre Bedarfe richtig zu verstehen und die eigenen Anliegen und Absichten mitteilen zu können.
Und nicht zuletzt sind natürlich auch Fragen des Datenschutzes und der Datensicherheit zu berücksichtigen und setzen Forschungs- und Entwicklungsprojekten einen Rahmen, den es zu berücksichtigen gilt. Wie im medizinischen Bereich auch haben wir es in der Pflege mit besonders sensiblen Daten zu tun, deren Austausch, Verarbeitung und Speicherung nicht ohne datenschutzrechtliche Prüfung und Vorkehrungen erfolgen kann.
Neugierde und Skepsis
TK: Gegenüber digitalen Systemen gibt es sowohl von Seiten der Patienten, als auch des Pflegepersonals aus, Vorbehalte und Ängste. Wie kann man die Beteiligten für eine offenere Haltung gegenüber der neuen Technik gewinnen?
Professorin Wolf-Ostermann: Die Teilnehmenden in unseren Forschungsprojekten zum Thema Pflege und Technik bringen oftmals neben einer gewissen Grundskepsis auch eine große Neugier mit und haben Lust, ihre Erfahrungen und Ideen zu teilen und Forschung mit zu gestalten. Neben einer umfassenden Aufklärung und Information, die Hand in Hand mit einer wertschätzenden und engen Kommunikation einhergehen sollte, ist es wichtig, den Beteiligten den Nutzen, den das System ihnen in ihrem Lebens- oder Arbeitsalltag bringt, aufzuzeigen. Was wird durch den Einsatz für sie leichter? Wo spüren sie Entlastung oder eine Verbesserung ihrer funktionalen oder kognitiven Fähigkeiten? Welche positiven Auswirkungen erfahren Sie in ihrem sozialen Umfeld? Wenn es gelingt, diesen Nutzen auch erlebbar zu machen und darüber hinaus aber auch die Befürchtungen der Beteiligten anzuhören und zu adressieren (etwa durch gut ausgearbeitete Schulungs- und Implementierungskonzepte), können Vorbehalte abgebaut werden.
Bei KI-Systemen kommt noch hinzu, dass die eigentliche Funktion des Systems eine Art unbekannte Größe darstellt, die als Laie kaum nachvollziehbar ist. Wenn ein solches KI-System dann etwa dazu genutzt wird, Handlungsempfehlungen für eine individuelle Pflegesituation auszusprechen, benötigen etwa Pflegefachpersonen entsprechende Kompetenzen, um die Empfehlung des Systems einzuordnen. Gleiches gilt für Pflegebedürftige und deren Angehörige. Diese Kompetenzen müssen vermittelt und das KI-System bzw. die von dem System getroffenen Empfehlung oder Entscheidung sollte den Beteiligten transparent gemacht bzw. das System zu einem gewissen Grad erklärbar gemacht werden.
TK: Wie ist aus Ihrer Sicht die zeitliche Perspektive? Ab wann können wir mit einem flächendeckenden Einsatz von KI in der deutschen Pflegelandschaft rechnen? Werden die Folgen der Corona-Pandemie eine beschleunigende Wirkung haben?
Professorin Wolf-Ostermann: Der Zeithorizont ist derzeit durch Unwägbarkeiten geprägt: Wir haben bislang kaum Erkenntnisse dazu, wie solche Systeme von Pflegeeinrichtungen aber auch von den Pflegebedürftigen und Pflegefachpersonen angenommen werden und welcher Nutzen - grade auch langfristig - mit dem Einsatz von KI-Systemen in der Pflege erzielt wird. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützt die Entwicklung und Erforschung neuer Technologien in der Pflege im Forschungsprogramm "Technik zum Menschen bringen" bereits seit einigen Jahren und wird dies auch künftig tun, die Bundesregierung hat das Thema Pflege in ihre Hightech-Strategie mit aufgenommen. Es ist also sicherlich in den kommenden Jahren mit vermehrten Forschungs- und Entwicklungsprojekten auf dem Gebiet zu rechnen, die idealerweise auch nach Projektende den Weg in die Praxis finden.
Bedarf an Rahmenkonzepten
Sicherlich wurde durch die derzeitige Pandemie der Bedarf an digitaler Technik in der Pflege prominenter. In vielen Pflegeeinrichtungen wurden, wenn auch "zwangsgetrieben" binnen kurzer Zeit oft ganz kreative Lösungen geschaffen, die für die Betroffenen auch einen Nutzen etablierten. Die Pandemie verdeutlichte aber auch, dass es, ganz unabhängig davon, ob es sich nun um KI-System oder eine andere digitale Technik in der Pflege handelt, nachhaltiger Finanzierungs- und Rahmenkonzepte für den Einsatz von Technik in der Pflege bedarf. Hier sind Leistungsträger und Leistungserbringer aber auch politische Akteure gefragt, im Dialog entsprechende Konzepte zu erarbeiten und begünstigende Rahmenbedingungen zu schaffen.