TK: Jedes Jahr werden der TK von hessischen Versicherten zwischen 500 und 600 Verdachtsfälle auf einen Pflege- oder Behandlungsfehler gemeldet. Davon werden zwei Drittel nicht weiterverfolgt. Warum?

Christian Soltau: Die Problematik - die aus meiner Sicht zurzeit zu Recht kontrovers diskutiert wird - liegt in unserer derzeitigen Rechtsprechung und der damit verbundenen Beweislast begründet. Nach der aktuellen Rechtsprechung muss der oder die von einem Pflege- oder Behandlungsfehler Betroffene beweisen, dass ein Fehler vorliegt und er oder sie dadurch einen Schaden erlitten hat. Aber sie müssen das Gericht nicht nur vom Pflege- oder Behandlungsfehler selbst, sondern auch von dessen Ursache überzeugen. Mit Wahrscheinlichkeiten ist es dabei nicht getan, selbst wenn die Wahrscheinlichkeit hoch ist.

Daher lautet in den Gerichtsverfahren eine typische Frage des Richters an den oder die Sachverständige: Was wäre geschehen, wenn das ärztliche oder Pflegepersonal den Fehler nicht gemacht hätte? Wäre auch dann der gesundheitliche Schaden eingetreten oder wäre er vermeidbar gewesen? Die typische Antwort lautet meist: "Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen." Da die weitere Beweisführung für die Geschädigten sehr schwierig, langwierig und auch kostenintensiv werden kann, geben an diesem Punkt viele auf.

TK: Die juristischen Verfahren, in denen Pflege- und Behandlungsfehlervorwürfe geklärt werden, ziehen sich oft über Jahre. Wie ließe sich das ändern?

Soltau: In der Tat dauern die Verfahren zur Feststellung eines möglichen Pflege- oder Behandlungsfehlers viel zu lange, teilweise zehn Jahre oder länger. Die Verfahren müssten viel schneller abgewickelt und die Betroffenen frühzeitig entschädigt werden. Was wir hierfür brauchen, sind zum einen mehr Spezialkammern für arzthaftungsrechtliche Fragen, zum anderen brauchen wir aber auch deutliche Erleichterungen für die Betroffenen. 

Da Patientinnen und Patienten in der Regel medizinische Laien sind, stellt die Beweisführung eines Behandlungsfehlers für sie in der Regel eine große Hürde dar. Um Schadensersatzansprüche leichter durchsetzen zu können, sollten sie - zumindest teilweise - hinsichtlich des Nachweises entlastet werden.

In der Tat dauern die Verfahren zur Feststellung eines möglichen Pflege- oder Behandlungsfehlers viel zu lange, teilweise zehn Jahre oder länger.  Christian Soltau 

Bei den TK-Versicherten, die uns einen Verdachtsfall melden, stellen wir fest, dass in jedem dritten betrachteten Fall drei oder mehr medizinische Gutachten erstellt werden. Das zeigt uns deutlich, dass die derzeitige Rechtsprechung wenig patientenfreundlich ist. Kaum ein Patient oder eine Patientin kann beispielsweise beweisen, dass er oder sie sich bei der Einnahme von Medikamenten exakt an den Beipackzettel gehalten hat. Daher ist es fast unmöglich, einen Arzneimittelhersteller für ein fehlerhaftes Medikament zur Verantwortung zu ziehen. Hinzu kommt, dass Pharmaunternehmen immer auch noch weitere denkbare Ursachen für einen unerwünschten Verlauf einer Behandlung anführen.

Chris­tian Soltau

Christian Soltau (Medizinrechtsexperte der TK) posiert für ein Porträtfoto. Das Bild ist noch nicht vollständig geladen. Falls Sie dieses Bild drucken möchten, brechen Sie den Prozess ab und warten Sie, bis das Bild komplett geladen ist. Starten Sie dann den Druckprozess erneut.
Medizinrechtsexperte bei der Techniker Krankenkasse

TK: Was ist das Schwierige an den Fällen, die die TK schon seit zehn oder mehr Jahren begleitet? 

Soltau: Nehmen wir ein Beispiel. Vor einigen Jahren kam einer unserer Versicherten zur Kurzzeitpflege in eine Pflegeeinrichtung. Dessen Sohn machte die Heimleitung bei der Aufnahme darauf aufmerksam, dass sein Vater Schluckbeschwerden habe und er nur passierte Nahrung zu sich nehmen dürfe; trotzdem erhielt er unpassiertes Essen. Daraufhin verschluckte und erbrach sich der Versicherte beim Essen. Da Nahrung in die Luftröhre gelangt war, musste er aufgrund einer akuten Atemnot notärztlich behandelt werden. Dabei erlitt er einen irreparablen Hirnschaden. Aufgrund des unseres Erachtens vorliegenden Pflegefehlers sind der Kranken- und Pflegeversicherung Kosten in Höhe von über einer Million Euro angefallen. Dies ist aber nur ein Fall von vielen, in denen sich der Nachweis des Pflege- oder Behandlungsfehlers schwierig gestaltet. 

Allein bis alle Unterlagen und Gutachten vorliegen, die für eine juristische Bewertung nötig sind, vergehen in den meisten Fällen viele Jahre. Diese Jahre stellen für die betroffenen Patienten eine enorme seelische, körperliche und nicht zuletzt auch oft eine finanzielle Belastung dar, wenn zum Beispiel der erlernte Beruf aufgrund des eingetretenen Gesundheitsschadens nicht mehr ausgeübt werden kann. Daher muss eine grundlose Verzögerung der Regulierung von Schadensersatzansprüchen seitens der Versicherer verhindert und sanktioniert werden.

Das Schadenersatzrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs beruht auf dem Ausgleichsgedanken. Demnach sollen die Schadenersatzleistungen die Nachteile ausgleichen, die den Geschädigten entstehen. Jedoch gibt das Gesetz nicht vor, in welchem zeitlichen Rahmen dieser Ausgleich zu erfolgen hat. In der Konsequenz kommt es daher regelmäßig zu Verzögerungen in der Regulierung der Ansprüche oder zu einer pauschalen Verweigerungshaltung, die den rein monetären Interessen der Versicherungswirtschaft dienen, ohne dass es hierfür objektiv nachvollziehbare Gründe gibt.

TK: Warum ist eine gute Fehlerkultur in unserem Gesundheitswesen so schwer umzusetzen? 

Soltau: Behandlungs- und Pflegefehler sowie kritische Ereignisse sollten noch viel stärker als bisher als eine wertvolle Quelle für Lernprozesse genutzt werden. Dazu braucht es zunächst eine offene Fehlerkultur in allen Einrichtungen des Gesundheitswesens.

Um speziell aus Verdachtsfällen auf einen Pflege- oder Behandlungsfehler oder aus echten Schadensfällen lernen zu können, wäre es sinnvoll, wenn Erkenntnisse von Schlichtungsstellen, Medizinischen Diensten, Haftpflichtversicherern und Fehlermeldesystemen zusammengeführt und systematisch ausgewertet würden, um daraus Lernprozesse zum Nutzen der Patientinnen und Patienten zu entwickeln. 


Behandlungs- und Pflegefehler sowie kritische Ereignisse sollten noch viel stärker als bisher als eine wertvolle Quelle für Lernprozesse genutzt werden.
  Christian Soltau 

Aber bei all dem sollte man auch bedenken, dass ein Behandlungsfehler nicht nur für Patientinnen und Patienten eine Katastrophe bedeutet. Auch die Ärztinnen und Ärzte sowie deren Mitarbeiterteams in Praxis und Klinik sind nach einem solchen Vorfall großen emotionalen und psychischen Belastungen ausgesetzt: Sie werden somit zu sogenannten "second victims", zum zweiten Opfer. Das oberste Ziel auf dem Weg zu mehr Patientensicherheit sollte daher eine Fehlerkultur sein, in der Ärztinnen und Ärzte sowie das gesamte medizinische Personal ohne Angst sagen können, dass etwas schief- oder beinahe schiefgegangen ist.

Wir müssen immer bedenken, dass - anders als in den meisten anderen Berufen - das medizinische Personal in der ambulanten und stationären Versorgung permanent Verantwortung für Menschenleben trägt. Hinzu kommen eine oftmals hohe Arbeitsbelastung, gestiegene Ansprüche der Patientinnen und Patienten an die Medizin und gleichzeitig ein hoher ökonomischer Druck auf die Kliniken. Wenn etwas schiefgeht, dann bezahlen die Patientinnen und Patienten das im schlimmsten Fall mit ihrem Leben. Ärztinnen und Ärzte und deren Mitarbeiterteams bezahlen für ihre Fehler aber ebenso, und zwar mit ihrer psychischen und emotionalen Gesundheit, auch wenn die Fehler aus einer Verkettung unglücklicher Umstände entstehen.

TK: Was braucht es, um im Gesundheitswesen eine gute Fehlerkultur zu schaffen? 

Soltau: Das Wichtigste wäre aus meiner Sicht, dafür zu sorgen, dass Fehler gar nicht erst entstehen. Schließlich ist das Vorbeugen gegen Pflege- und Behandlungsfehler für alle Beteiligten, insbesondere aber für die Patientinnen und Patienten, allemal besser, als im Nachhinein für eine angemessene Fehlerbewältigung zu sorgen.

Eine Möglichkeit, die Situation im Krankenhaus zumindest zu verbessern, sehe ich darin, mehr in Bildungsangebote und Trainings für Klinikpersonal zu investieren. Beispielsweise könnten Simulationstrainings in der Medizin verpflichtend ausgebaut werden. Zudem wäre es wichtig, Mitarbeitende mit Gesundheitswesen beim Verdacht auf einen Behandlungsfehler systematisch zu unterstützen. Derzeit bestehen leider noch keine flächendeckenden Angebote zur Betreuung der "second victims", obwohl dies sicherlich empfehlenswert ist. 

TK: Könnte eine offenere Fehlerkultur auch juristische Verfahren beschleunigen? 

Soltau: Ein Hemmnis für schnellere Entschädigungsverfahren liegt unter anderem darin, dass ein Arzt oder eine Ärztin, die einen Fehler eingestehen würden, in Gefahr gerieten, den eigenen Haftpflichtanspruch zu verlieren. Auch die berechtigte Furcht vor beruflichen und damit verbundenen gesellschaftlichen Konsequenzen trägt sicherlich dazu bei, dass wir noch weit davon entfernt sind, eine konstruktive und offene Fehlerkultur zu leben. 

TK: Die TK fordert schon seit Jahren einen Härtefallfonds zur Unterstützung der Opfer von Behandlungsfehlern. Die aktuelle Regierungskoalition hat angekündigt, einen solchen Fonds umzusetzen. Wie realistisch ist das?

Soltau: Fakt ist, dass Behandlungsfehler zu immensen Kosten für das Gesundheitswesen und zu unbilligen Härten für die Betroffenen führen. Sie werden dadurch oft, nach dem eigentlichen Pflege- oder Behandlungsfehler, zum zweiten Mal Opfer der strittigen, langwierigen und teuren juristischen Auseinandersetzungen. 

Grundsätzlich befürworten wir daher einen Härtefallfonds, wissen aber auch, dass es sich hier um ein äußerst komplexes Thema handelt, insbesondere was die Frage der Finanzierung angeht. Wir gehen daher nicht davon aus, dass eine Umsetzung in absehbarer Zeit realistisch ist.

TK: Wie sollte ein solcher Härtefallfonds ausgestaltet sein, damit er für Betroffene wirklich hilfreich ist? 

Soltau: Ein Härtefallfond muss frühzeitig ansetzen, um zeitnah weiteres Leid für die Betroffenen zu reduzieren und weitere Kosten für das Gesundheitssystem zu vermeiden. Er muss für die Betroffenen einen finanziellen Ausgleich schaffen und soll vor unzumutbaren sozialen Belastungen schützen.

Dabei darf ein Härtefallfonds keine Alternative, sondern muss eine Ergänzung zu den vorhandenen, auch für die Arzthaftung relevanten gesetzlichen Regelungen sein. Und er muss, anderes als bei der derzeitigen Rechtsprechung, bereits dann eintreten, wenn die Wahrscheinlichkeit sehr hoch ist, dass ein Pflege- oder Behandlungsfehler vorliegt. Dann würde ein solcher Fonds die derzeit vorhandenen Gerechtigkeitsprobleme kompensieren.