Wir haben mit Dr. Soo-Zin Kim-Wanner, Martin Rapp und Dr. Gunther Rexroth, dem Leitungsteam des hessischen klinisch-epidemiologischen Krebsregisters, darüber gesprochen, welche Aufgaben das Register erfüllt und wie es - etwa mit Empfehlungen zu Prävention und Behandlung oder neuen Versorgungskonzepten - zur Verbesserung der medizinischen Versorgung beitragen kann. 

TK: Wie digital ist das Hessische Krebsregister heute aufgestellt?

Dr. Gunther Rexroth: Durch die Umstellung des Hessischen Krebsregisters von einem rein epidemiologischen zu einem klinisch-epidemiologischen Landeskrebsregister hat sich der Datenumfang je Patient und Patientin vervielfacht. Die Digitalisierung der gesamten Melde- und Verarbeitungsprozesse war die notwendige Konsequenz, um sich dieser Herausforderung stellen zu können. Wir hatten 2014 mit 140.000 Meldungen eine flächendeckende bevölkerungsbezogene epidemiologische Erfassung erreicht. Für das Jahr 2023 sind es weit mehr als 700.000 Meldungen, die bei uns eingehen und verarbeitet werden müssen. Meldungen per Papier wurden abgeschafft, und digitale Meldewege auf- und ausgebaut. Wir stehen in einem stetigen Wandel von Prozessen und Strukturen und sehen hier auch noch weiterhin Möglichkeiten der Digitalisierung.

Krebsregister

Bevölkerungsbezogene (epidemiologische) Krebsregister und klinisch-epidemiologische Krebsregister erfassen unterschiedliche Daten und verfolgen jeweils andere Ziele.

Bevölkerungsbezogene (epidemiologische) Krebsregister erfassen Daten zu allen neuen Krebserkrankungen in einer definierten Region oder Bevölkerungsgruppe. Ziel ist es, die Häufigkeit von Krebserkrankungen nach Alter, Geschlecht und Wohnort sowie die jeweiligen Überlebenszeiten der Betroffenen zu analysieren und Trends, regionale Unterschiede sowie Auswirkungen von Präventions- und Früherkennungsprogrammen bei Krebserkrankungen zu untersuchen.

Klinisch-epidemiologische Krebsregister erfassen deutlich detaillierte Daten zum Verlauf einer Krebserkrankung, und zwar vom Zeitpunkt der Diagnose über einzelne Behandlungsschritte und die Nachsorge bis hin zum Wiederauftreten der Erkrankung und zum Todeszeitpunkt. Ziel dieser umfassenden Datensammlung ist die Qualitätssicherung der medizinischen Versorgung. Krebsregister werten die erhaltenen Daten aus, überprüfen, ob medizinische Leitlinien eingehalten wurden und untersuchen Unterschiede in der Behandlungsqualität zwischen verschiedenen Krankenhäusern. Im Dialog mit den Kliniken findet ein intensiver Austausch über die ausgewerteten Daten statt.

Im Bundesland Hessen wurde inzwischen ein integriertes Krebsregister eingerichtet, das sowohl epidemiologische als auch klinische Daten erfasst und die Vorteile beider Register nutzt.

TK: Welche Meilensteine haben Sie seit der Umstellung auf ein klinisch-epidemiologisches Register in den vergangenen Jahren erreicht?

Die klinische Krebsregistrierung ist ein langwieriger Prozess der Datensammlung. Martin Rapp

Martin Rapp: Die klinische Krebsregistrierung ist ein langwieriger Prozess der Datensammlung.  Er beginnt mit der Dokumentation von Behandlungsdaten in den Praxen und Krankenhäusern, die im nächsten Schritt an das Hessische Krebsregister übermittelt werden. Dort werden die Behandlungsdaten - etwa Diagnose- oder Therapiedaten - verarbeitet und von den verschiedenen Behandlungsteams zusammengeführt. Der gesamte Behandlungsprozess soll dokumentiert werden. Um valide Auswertungen treffen zu können, muss dieser Prozess hessenweit bestmöglich etabliert sein.

Martin Rapp

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Organisatorischer Leiter der Vertrauensstelle des Hessischen Krebsregisters

Ein entscheidender großer Meilenstein in Hessen war die enge Zusammenarbeit des Hessischen Krebsregisters mit dem Hessischen Onkologiekonzept. Wir haben den Austausch mit den acht größten Kliniken in Hessen gesucht und gemeinsam mit den beteiligten Ärztinnen und Ärzten eine Strategie zum Aufbau der flächendeckenden klinischen Krebsregistrierung entwickelt. In den verschiedenen Regionen hat sich ein Dialog etabliert, der gerade zu Beginn dazu beigetragen hat, dass sich in den Kliniken die Meldetätigkeit verstetigte. In der Folge konnte dann auch die Meldetätigkeit in weiteren angeschlossenen Kliniken angestoßen werden.

Ein weiterer entscheidender Meilenstein war die Einbindung der niedergelassenen Ärzte. Sie konnten bislang ihre Daten lediglich über das Meldeportal des hessischen Krebsregisters digital übertragen. Seit Jahresbeginn 2024 bieten nun immer mehr Softwarehersteller Erfassungsmodule für die Krebsregistermeldung in den Praxissystemen an. Dies wird es den Praxen deutlich erleichtern, Daten zu melden und unseren Datenpool vervollständigen.

Zudem beobachten wir, dass immer häufiger Externe Daten der Krebsregistrierung bei uns anfragen und als weitere Quelle für die Wissensgenerierung und Entscheidungsfindung für Präventionsmaßnahmen, Behandlungsempfehlungen oder Versorgungskonzepten nutzen. Beispielsweise basiert die Aktualisierung der Leitlinie für das Brustkrebsscreening durch die EU-Kommission, bei der das Alter für das Mammographie-Screening ausgeweitet wurde, unter anderem auf Daten der Krebsregister der EU-Länder.

TK: Welche Rolle spielt hierbei die personalisierte Medizin?

Dr. Soo-Zin Kim-Wanner: Die personalisierte Medizin kann die Prognose von vielen Patientinnen und Patienten nachweislich verbessern. Sie ist mittlerweile ein Bestandteil des klinischen Alltags und in Leitlinienempfehlungen implementiert. Voraussetzung ist der Nachweis von pathologischen Genveränderungen im Tumorgewebe und die Verfügbarkeit von zielgerichteten Medikamenten. Seit Juli 2021 können dank des aktualisierten Basisdatensatzes molekulargenetische Veränderungen im Tumorgewebe registriert werden. Dadurch können die Behandlungsqualität und die Auswirkungen zielgerichteter Therapien auf spezifische Krebsarten untersucht werden. Diese Untersuchungen können zu neuen Erkenntnissen führen.

Dr. med. Soo-Zin Kim-Wanner

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Leiterin der Landesauswertungs- und Abrechnungsstelle des Hessischen Krebsregisters

TK: Im Gesundheitssystem werden an den unterschiedlichsten Stellen Daten über Patientinnen und Patienten abgelegt. Damit sie tatsächlich einen Mehrwert für die Gesundheit bringen können, müssen sie verfügbar sein. Hier bringt das Gesundheitsdatennutzungsgesetz entscheidende Änderungen. Welche Chancen stecken aus Ihrer Sicht in dem Gesetz?

Dr. Rexroth: Mit dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz, kurz GDNG, wird ein wichtiger Vorstoß zur Erschließung von Gesundheitsdaten für die Forschung unternommen. Das Ziel ist hierbei klar formuliert: Es soll eine erleichterte Nutzbarkeit von Gesundheitsdaten für gemeinwohlorientierte Zwecke erlangt werden. Krebsregisterdaten sind hierbei explizit genannt und wir sehen hier Chancen, die Krebsregisterdaten für klar definierte Forschungsanfragen zur Verfügung zu stellen. Bisher sind die Prozesse für die Nutzbarmachung der Krebsregisterdaten noch nicht abschließend geklärt, aber wir befinden uns auf dem richtigen Weg.

Mit den Krebsregisterdaten kann bereits jetzt der komplette Krankheitsverlauf von Patientinnen und Patienten mit Krebserkrankungen abgebildet werden. Dr. Gunther Rexroth

Derzeit profitiert das Hessische Krebsregister noch nicht direkt vom GDNG. Forschungsanfragen werden uns bereits jetzt gestellt und von uns bedient. Mit den Krebsregisterdaten kann bereits jetzt der komplette Krankheitsverlauf von Patientinnen und Patienten mit Krebserkrankungen abgebildet werden.  Was uns Stand heute aber noch nicht oder nur eingeschränkt vorliegt, sind Informationen zu Kurz- oder Langzeitnebenwirkungen oder weiteren Erkrankungen wie beispielsweise Herzerkrankungen. Durch das Zusammenführen mit weiteren Datenquellen, die das GDNG vorsieht, können weitere Erkenntnisse zu Kurz- und Langzeittoxizitäten, Lebensqualität und sozio-ökonomische Folgen spezifischer Therapien und Krebserkrankungen gewonnen werden. Diese Erkenntnisse können in die Verbesserung von Behandlungs- und Versorgungskonzepten einfließen.

TK: Viele Krankenhäuser im Land verfügen über eigene, zentrale Tumordokumentationen. Arbeiten Sie mit diesen einrichtungsbezogenen klinischen Krebsregistern zusammen und welche Synergieeffekte ergeben sich daraus?

Rapp: Wir arbeiten eng verzahnt mit den Kliniken zusammen und in der Tat gibt es in vielen Krankenhäusern zentrale einrichtungsbezogene Tumordokumentationssysteme, in denen die Patientendaten hochstrukturiert dokumentiert werden. Wir haben frühzeitig den Austausch mit diesen Häusern gesucht, die Verzahnung mit dem Hessischen Onkologiekonzept wurde bereits angesprochen. Die Kliniken haben großes Interesse an einer möglichst effektiven Dokumentation und der Rückmeldung der vom Krebsregister zusammengeführten Informationen verschiedenster medizinischer Einrichtungen, um den eigenen personellen Aufwand möglichst gering zu halten. Gemeldet wird uns der sogenannte onkologische Basisdatensatz. Dessen Inhalte liegen in den Tumordokumentationssystemen strukturiert vor. Dokumentation und Krebsregistrierung wird hier bestmöglich aufeinander abgestimmt.

Aber auch die Kliniken wollen vom Krebsregister profitieren. Für die Organzentren ist es wichtig, die Weiterbehandlung der Patientinnen und Patienten zu dokumentieren. Ein Organzentrum ist ein Netzwerk von Spezialisten aus verschiedenen medizinischen und pflegerischen Fachrichtungen, sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich, das Krebspatienten ganzheitlich und in allen Phasen ihrer Erkrankung behandelt. Hier bietet das Hessische Krebsregister Rückmeldungen, welche eine komplizierte Recherche in den Einrichtungen minimieren. Diese Rückmeldungen beinhalten eine übersichtlich aufbereitete Darstellung der eigenen übermittelten Behandlungsdaten. Diese können zur internen Qualitätssicherung verwendet werden. Zusätzlich erfolgt unter anderem die Information zum Vitalstatus der behandelten Patienten einer Klinik.  

Darüber hinaus wandelt sich die medizinische Behandlung stetig, was zur Folge hat, dass neue Verfahren, neue Therapien etabliert werden. Es gilt daher auch sicherzustellen, dass die Erhebung in den Krebsregistern die tatsächliche Behandlung bestmöglich abbildet, aber dabei auch den Dokumentationsaufwand im Auge behält.

TK: Viele Menschen in Deutschland, tendenziell Männer, vernachlässigen die regelmäßige Krebsvorsorge. Können Sie aus den Daten, die sie von den Leistungserbringern erhalten, wichtige Erkenntnisse ableiten, die individuell am Bedarf von Patientinnen und Patienten ausgerichtet sind und die zu einer besseren Krebsprävention führen können? Kann dies aus Ihrer Sicht die Menschen möglicherweise dazu motivieren, mehr Engagement in die Prävention und Früherkennung von Krebserkrankungen zu investieren?

Die Krebsentstehung ist hochkomplex. Dennoch wissen wir, dass etwa 40 Prozent der Krebsvorkommen durch einen gesunden Lebensstil vermeidbar sind. Dr. Gunther Rexroth

Dr. Rexroth: In Deutschland gibt es für Brustkrebs, Darmkrebs, Gebärmutterhalskrebs, Haut- und Prostatakrebs Krebsfrüherkennungsprogramme. Mit den Daten der Krebsregister werden deren Effekte evaluiert. Beispielsweise können aus den Evaluationsergebnissen weitere Behandlungsmaßnahmen abgeleitet werden. Die Krebsentstehung ist hochkomplex. Dennoch wissen wir, dass etwa 40 Prozent der Krebsvorkommen durch einen gesunden Lebensstil vermeidbar sind.  Obwohl Lebensstilinformationen in den Krebsregisterdaten nicht enthalten sind, können wir anhand dieser Daten Auswirkungen sehen: Beispielswiese beobachten wir parallel zum gesteigerten Rauchverhalten ein Anstieg der Lungenkrebsraten bei Frauen in den letzten 20 Jahren, während diese bei den Männern kontinuierlich gefallen sind.

TK: Setzen Sie für Datenauswertungen auch Künstliche Intelligenz ein und wie kann das Gesundheitswesen davon profitieren?

Dr. Kim-Wanner: Das Hessische Krebsregister beteiligt sich an mehreren vom Bundesministerium für Gesundheit geförderten Forschungsprojekten . Diese untersuchen, ob unter anderem mit Künstlicher Intelligenz prädiktive Faktoren für den Krankheitsverlauf entdeckt, neue Evidenz für Behandlungsstrategien generiert, strukturierte Datenerhebungen aus medizinischen Freitextbefunden erzielt oder für die Qualitätssicherung von Krebsregisterdaten angewendet werden können. Alle Forschungsprojekte befinden sind in der Durchführungsphase, so dass noch keine Aussagen zu Ergebnissen gegeben werden können.

TK: Wie profitieren Sie vom Austausch mit den Krebsregistern in anderen Bundesländern?

Rapp: Selbstverständlich arbeiten die Landeskrebsregister eng zusammen. Sie sind in einem Expertengremium  organisiert, das den stetigen fachlichen Austausch der klinischen Krebsregister gewährleistet. Die Zielsetzung und die Vorgehensweise der Länderregister müssen harmonisiert sein, um eine flächendeckende Krebsregistrierung in ganz Deutschland zu erreichen.

Stellen Sie sich nur allein einen hessischen Patienten vor, der sich in Berlin oder Heidelberg aufgrund eines Tumors operieren lässt, aber zur Weiterbehandlung in Hessen zum Arzt geht. Auch in einem solchen Fall muss sichergestellt sein, dass die Daten dieses Patienten über den Datenaustausch der Landeskrebsregister nach Hessen gelangen und im jeweiligen Krebsregister des Bundeslandes aufgerufen werden können. Nur so kann eine lückenlose Dokumentation sichergestellt werden. Dieser etablierte Datenaustausch von onkologischen Behandlungsdaten ist ein entscheidender Erfolg in der bundesweiten klinischen Krebsregistrierung.

TK: Wenn Sie einmal ins Ausland blicken: Wie schneiden unsere Krebsregister im internationalen Vergleich ab?

Dr. Kim-Wanner: Selbstverständlich gibt es auch andere Länder, die erkannt haben, wie zielführend eine Krebsregistrierung sein kann. Beispielsweise verfügen die skandinavischen Länder, die Niederlande und Großbritannien seit Jahrzehnten über etablierte Strukturen für die epidemiologische Krebsregistrierung. Die USA feierten letztes Jahr das 50-Jahr-Jubiläum ihres SEER-Programmes , der weltweit größten Krebsregisterdatenbank, die etwa 50 Prozent der US-amerikanischen Bevölkerung abdeckt.

Im internationalen Vergleich hat Deutschland mittlerweile mit der klinischen Krebsregistrierung eine Vorreiterrolle eingenommen. Dr. Soo-Zin Kim-Wanner

Demgegenüber reden wir in Deutschland von einer flächendeckenden klinischen Krebsregistrierung, welche mit dem Krebsfrüherkennungs- und Registergesetz bzw. der Schaffung des Expertengremiums ihren Anfang nahm. Diese registriert weit mehr Informationen als beispielsweise die skandinavischen Länder und im Vergleich zu den USA bildet sie die bundesdeutsche Gesamtbevölkerung ab.

Im internationalen Vergleich hat Deutschland mittlerweile mit der klinischen Krebsregistrierung eine Vorreiterrolle eingenommen und ist das einzige Land, das die Registrierung von molekulargenetischen Veränderungen eingeführt hat. Diese Flächendeckung über das gesamte Bundesgebiet bietet einen enormen Datenschatz, welcher dezentral in den einzelnen Landeskrebsregistern vorliegt.