"Der Aufbau von Ökosystemen im Gesundheitswesen ist ein Megatrend."
Interview aus Hessen
Im Interview berichtet Expertin Luisa Wasilewski über entstehende Ökosysteme im Gesundheitswesen, wie sie funktionieren und was sie bewirken können.
TK: Sie beschäftigen sich in Ihrem Unternehmen mit sogenannten Megatrends im Gesundheitswesen. Welche solcher Megatrends sehen Sie für Deutschland?
Luisa Wasilewski: Der Aufbau von Ökosystemen im Gesundheitswesen ist ein Megatrend, auch wenn er in Deutschland in der Umsetzung noch ganz am Anfang steht. In einem Ökosystem sind verschiedene Player aus dem Gesundheitswesen und angrenzenden Branchen miteinander vernetzt und können für Kundinnen und Kunden verschiedenste Angebote und Services bieten. Solche Ökosysteme können beispielsweise rundum die Krankenkassen entstehen und eine lebenslange Begleitung bieten. Etwa wenn jemand Diabetes hat: Er erhält von seiner Krankenkasse nicht nur Tipps zum Bewegungsverhalten oder eine Erinnerung, das nächste Rezept anzufragen. Es gibt auch eine Vernetzung zum Anbieter von Hard- und Software, der unterstützt, wenn es Info-bedarf zum Messgerät oder Ähnlichem gibt. Viele Abläufe können so Hand in Hand gehen. Wichtig, damit sich der Trend entwickeln kann, ist die Interoperabilität. Dafür brauchen wir den weiteren Aufbau von Infrastruktur. Andere Megatrends sind Datensammlung und -auswertung sowie KI-Sprachmodelle. Diese Entwicklungen sind außerhalb des Gesundheitswesens stärker zu spüren, aber wir nähern uns langsam an und sie werden auf jeden Fall kommen.
TK: Was glauben Sie, wie sich das Gesundheitswesen in den nächsten fünf Jahren verändern wird?
Wasilewski: Bevor wir nach vorne schauen, müssen wir erst schauen, wo wir heute stehen. Im Gesundheitswesen gibt es eine große Spanne zwischen dem, was technologisch möglich ist und dem, was tatsächlich passiert. Andere Industrien, wie Banking oder Reisen haben sich mit den technologischen Neuerungen weiterentwickelt. Im Gesundheitswesen hat sich 20 Jahre nichts verändert: Wir haben weiter auf Papier geschrieben und Faxe geschickt. Deshalb arbeiten wir im Gesundheitswesen immer noch an den Basics: Infrastruktur, ePA, eRezept und an der Kommunikation zwischen den Sektoren. Jetzt sind wir an dem Punkt, dieses Erbe aufzuarbeiten. Ich gehe davon aus, dass die Infrastruktur in fünf Jahren so aufgesetzt ist, dass sie ihren Nutzen breiter entfaltet - wenn auch noch nicht überall und bis zur Perfektion.
Parallel dazu werden sich intelligente Entscheidungshilfen weiterentwickeln. Dafür ist wiederum die gute Infrastruktur die Basis: Wenn man Diagnostik über KI machen will oder Therapieentscheidungen begleiten will, braucht man erst Daten. Diese Daten müssen von verschiedenen Leistungserbringern kommen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir die Infrastruktur gut aufsetzen, damit diese Datenautobahn überhaupt fließt und Algorithmen darauf trainiert werden können. Der Aufbau der Infrastruktur und die KI-Entwicklungen werden parallel laufen. Die Diagnostik wird in dieser Entwicklung ganz vorne dabei sein.
TK: Das klingt nicht sonderlich spektakulär, fast enttäuschend - vielleicht müssen wir weiter nach vorne schauen - zehn Jahre?
Wenn es um Transformation des Gesundheitssystems geht, sind drei Jahre ein Fingerschnippen.
Wasilewski: In Deutschland wird gerne und viel kritisiert, aber man muss auch anerkennen, was wir alles in den letzten Jahren in einem hochgradig komplexen und regulierten System geschafft haben. Oft höre ich in der Diskussion mit Investoren oder Gründern, dass die "Digitale Gesundheit" zu langsam umgesetzt wird. Aus einer ECommerce-Sicht stimmt das sicherlich. Aber wenn es um Transformation des Gesundheitssystems geht, sind drei Jahre ein Fingerschnippen. Mit Blick auf Diagnostik und Therapieentscheidung wird KI ganz massiv unterstützen. Beispiel Krebstherapien: Ein Arzt oder eine Ärztin muss einerseits entscheiden, was er bzw. sie der jungen Frau empfiehlt, die noch Kinder bekommen möchte und bei einem anderen Fall, was zu einem 60-jährigen Mann passt, der die nächsten Jahre einfach würdevoll leben möchte.
Intelligente Algorithmen können Ärzte und Ärztinnen datenbasiert unterstützen und dann präsentieren: "Ich habe den Patienten und sämtliche Studien durchleuchtet. Auf dieser Basis ist der Vorschlag XY die beste Option." Diese Research kann ein Arzt oder eine Ärztin im Hintergrund während des Patientengesprächs nicht in Sekunden oder Minuten leisten. Das heißt auch, dass wir vom Gießkannenprinzip immer weiter weggehen werden, hin zur personalisierten Medizin: Was braucht der Mensch mit Vorerkrankung und bestimmtem familiären Background? Wie sieht die individuelle Prävention aus? Wann muss er zum Check-up gehen? Ganz weit oben sehe ich auch die Begleitung der alternden Gesellschaft. Wir kommen - auch wegen des Fachkräftemangels - nicht mehr umhin, diese alternde Gesellschaft digital zu unterstützen. Digital gestützte Pflege und häusliche Betreuung werden perspektivisch viel mehr in den Fokus rücken.
TK: Wie befähigt man Leistungserbringer, die Entwicklungen bei KI-Technologien mitzugehen?
Wasilewski: Die Schere, zwischen dem, was technologisch möglich ist und was wir Menschen begreifen und umsetzen können, wird in den nächsten Jahren noch weiter auseinandergehen. Aktuell löst KI noch große Ängste aus, die erst wieder abgebaut werden müssen. Viele haben noch Angst davor, dass die KI sie "ersetzen" soll. Nein! Es geht darum, gewisse Prozess-Schritte zu unterstützen. Ich glaube deshalb, dass man schon im Medizinstudium schulen und erklären muss: Wie liest man Daten? Wie funktioniert KI? Wie interpretiert man Dashboards? Es ist erforderlich, viel in Bildung zu investieren, um hier voranzukommen.
KI löst große Ängste aus, die erst wieder abgebaut werden müssen.
In der Generation danach gibt es einen Mix aus Leuten, die Lust darauf haben, die Entwicklungen mitzugehen. Diese Menschen erreichen wir über Weiterbildungen, die als Innovationstrigger wirken. Dazu sollte auch die Industrie Schulungsangebote in den Vertrieb integrieren. Start-ups und Tech-Anbieter sollten stärker in den Dialog mit Anwendern (z. B. Pflegende oder Ärzte und Ärztinnen) einsteigen und über Schulungen an der Front unterstützen. Ärztinnen und Ärzten, die schon jahrzehntelang in ihrer Praxis praktizieren, die Ängste vor KI zu nehmen, scheint mir sehr schwierig zu sein. Manche haben auch die Denke: Ich arbeite seit 40 Jahren in dem Beruf, das Wartezimmer ist voll, da brauche ich keine KI." Meine Erfahrung aus Transformationsprozessen hat mich gelehrt, dass wir uns hier eher die Zähne ausbeißen. In Krankenhäusern wird die Entwicklung vielleicht etwas schneller voranschreiten, weil sie in den nächsten Jahren auf ihre Effizienz schauen müssen, um schlichtweg zu überleben. Dort könnte die Offenheit für KI größer sein. Insgesamt haben wir da noch einen sehr weiten und steinigen Weg vor uns.
TK: Wie sehen Sie die neue Gesetzgebung zur Digitalisierung und Gesundheitsdatennutzung? Gehen Ihnen die Gesetze weit genug?
Wasilewski: Die neuen Gesetze zahlen auf den Aufbau von Infrastruktur ein, um die ePA, das eRezept und die Telematikinfrastruktur zu pushen. Genau das brauchen wir für die nächsten Jahre. Es ist gut, was da passiert. Ist jetzt alles perfekt gelöst? Sicherlich nicht, aber wir müssen an diesen Basisthemen dranbleiben. Was mir fehlt: Anreizsysteme für Ärzte und Ärztinnen, mehr Digitalisierung zu nutzen. Da sollten die Vergütungsstrategien angegangen werden. Aber vielleicht ist die Zeit dafür noch nicht reif. Ich vermisse Gesetzesinitiativen für mehr Interoperabilität. Daran wird sogar auf EU-Ebene bereits dran gearbeitet. Wenn es mit der Interoperabilität vorangeht, dann öffnet sich das Feld für KI so richtig. Es gibt einfach so viele Baustellen - bildlich gesprochen, operieren wir am Herzen und am Fuß und am Gehirn und überall gleichzeitig in Deutschland, da kann man jetzt nicht noch die ganze Wirbelsäule austauschen. Deswegen bin ich ganz zufrieden mit den neuen Gesetzen.
TK: Inwiefern werden ChatGPT und andere KI- Sprachmodelle eine Rolle im Gesundheitswesen und der Versorgung spielen?
Wasilewski: Das, was ChatGPT kann - in einen ganz natürlich wirkenden Dialog einsteigen - ist etwas, was das Vorstellungsvermögen der meisten Menschen heute noch übersteigt. Das ganze Thema Sprachmodelle in der KI hat gigantische Potenziale: Mithilfe von KI kann man Diagnosen schneller stellen, die Therapieauswahl gezielter treffen, intervenieren, wenn etwas in die falsche Richtung geht. Aber es geht nicht nur um Entscheidungen, es geht auch um Gespräche. Durch Sprachmodelle könnte die KI-Stimme direkt mit den Patienten und Patientinnen reden oder nachts wecken, weil über Sensoren registriert wird, dass im Körper gerade etwas passiert - das kann und wird ein Arzt oder eine Ärztin ja niemals leisten.
Wenn die Sprachsoftware neben charmanten Formulierungen noch mit einer netten Stimme versehen ist, wird sie auch für die weiterführende Kommunikation relevant. Die KI kann auch helfen, Patientinnen und Patienten zu steuern: Zum Beispiel bekommt ein Patient oder eine Patientin eine Nachricht, was bei seiner bzw. ihrer Erkrankung die nächsten Schritte sind. Oder die KI fordert sie oder ihn auf, die Ärztin oder den Arzt anzurufen und macht auf die eingegangene Überweisung aufmerksam. Mit Chatbots lassen sich Patientenpfade bauen, die helfen, die Menschen zu begleiten und besser zu versorgen.
Mit Chatbots lassen sich Patientenpfade bauen, die helfen, Menschen zu begleiten.
TK: Welches Potenzial steckt Ihre Meinung nach in der elektronischen Patientenakte (ePA)?
Wasilewski: Ich schaue positiv auf die ePA. Die Vision einer lebenslangen Dokumentation von Geburt bis zum Tod; eine Akte, in der alle medizinischen Daten drin sind, um im Verlaufe des Lebens die richtigen Entscheidungen und Empfehlungen auszusprechen - das ist die Traumversion von einer ePA. Was beispielsweise in Estland schon im Piloten getestet wird: alle Bürgerinnen und Bürger sollen sequenziert werden, dann wird der DNA-Datensatz direkt in die ePA integriert und Information, Prävention und Therapien darauf ausgelegt. Diese Daten haben dann für den Rest ihres Lebens einen Einfluss auf die Versorgung. Das lässt mein Herz höherschlagen. Das Potenzial, lebenslang Daten zu sammeln, an die Forschung zu geben und für sich Empfehlungen ableiten zu lassen, das finde ich wunderbar. Das ist mein Traum für unsere Gesellschaft - individualisierte Medizin.
Die Realität ist jedoch noch weit davon entfernt, aber in Zukunft ist die ePA das Kernstück, das alles verbindet. In der ePA gibt es irgendwann die Möglichkeit, jedem Leistungserbringer schnell etwas verfügbar zu machen: Du willst wissen, wie sich der Blutwert über die letzten fünf Jahre verändert hat? Der Algorithmus durchforstet mal eben schnell die ePA, findet die Daten und schickt nur die relevanten Daten, die der Arzt oder die Ärztin braucht, um den Trend für eine Nieren- oder Lebererkrankung abzuleiten. Das ist eine Wunschvorstellung, aber es wäre schön, wenn wir da hinkommen. Um das möglich zu machen, brauchen wir Daten und eine Plattform wie die ePA - sie zahlt auf diese Entwicklung ein.
TK: Welche Rolle werden selbst erfasste Daten für die medizinische Versorgung spielen?
Wir haben zu wenige strukturierte Daten im System.
Wasilewski: Es ist ein notwendiger Schritt, dass wir selbst erfasste Daten zusätzlich zu den Daten der Leistungserbringer aufnehmen. Anders werden wir eine datengetriebene Versorgung zeitnah nicht hinbekommen. Wir tracken heute nicht mehr nur Blutdruck, Puls, Schritte oder Körperfett mit der digitalen Waage. Wir können auch Werte aus Urintests, Mikrobiom-Tests oder Blutzucker erfassen. Der Trend der Selbstvermessung und Optimierung wächst immer noch. Die daraus resultierenden Daten sollten und müssen meiner Meinung nach in die Versorgung einfließen, weil wir diese Daten nutzen können. Es sind strukturierte Daten - Zahlen, die klar zugeordnet und mit denen Algorithmen trainiert werden können. Davon haben wir im System immer noch zu wenig. Wenn wir die Algorithmen darauf trainiert haben, werden wir auch zunehmend in der Lage sein, unstrukturierte Daten auszulesen, wie Fotos oder Texte. Irgendwann können wir regelhaft beide Datentypen lesen. Aber um da hinzukommen, müssen wir erst die Basis mit strukturierten Daten schaffen. Klar gibt es dann auch immer das Argument: "Die Apple Watch trackt doch nicht wie ein Schlaflabor!" Richtig, weil sie lose am Handgelenk sitzt und nicht so akkurat misst wie ein Medizingerät. Trotzdem können auch weniger akkurat gemessene Daten helfen, Prävention und Früherkennung und vielleicht sogar Diagnostik zu betreiben. Was nützlich ist, muss nicht immer gleich reif für den Nobelpreis sein.
Zur Person
Luisa Wasilewski ist Betriebswirtin, publizierte Autorin und etablierte Expertin im Digital Health Bereich. Sie bringt Einblicke sowohl in die Investorenseite als auch die Unternehmerseite digitaler Lösungen im Gesundheitswesen mit. Aktuell begleitet Wasilewski als Geschäftsführerin von Brainwave Gesundheitsunternehmen auf dem Weg zur digitalen, patientenorientierten Transformation und evaluiert Investments in Digital Health Startups. Als Advisory Board Mitglied begleitet sie mehrere Digital Health Startups beim Markteintritt. Zuvor hat sie bei Heartbeat Labs selbst innovative Geschäftsmodelle aufgebaut und bei der Capgemini Consulting Unternehmen in ihrer digitalen Transformation unterstützt. Luisa Wasilewski ist 34 Jahre alt. Sie lebt und arbeitet in Berlin.
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