Depressionen sind die häufigste und schwerste psychische Störung bei jungen Menschen
Interview aus Hessen
In einem besonderen Versorgungsprojekt erhalten junge Patientinnen und Patienten direkt nach der Entlassung aus dem Krankenhaus psychologische Unterstützung von einer Chatbot-App, um im Alltag leichter Fuß fassen zu können.
TK: Immer mehr junge Menschen werden wegen Depressionen im Krankenhaus behandelt. Was sind die Gründe dafür?
Professorin Viola Oertel: Insgesamt gehören depressive Störungen sowohl im Kindes- und Jugendalter als auch im Erwachsenenalter zu den häufigsten psychischen Störungen. Die Ursachen für die Zunahme der Zahl der Krankenhausaufenthalte in diesem Lebensalter sind vielfältig. Eine Depression entsteht meistens durch mehrere Ursachen: eine gewisse familiäre Häufung oder wiederholte und dauerhafte stressige Lebensumstände können die Entstehung begünstigen. Dies können beispielsweise eine chronische Erkrankung, das Kümmern um kranke Familienangehörige, eine Mobbing-Situation oder ähnliches sein.
Stresssituationen können für das Entstehen einer Depression mit ausschlaggebend sein.
Auch leistungsbezogene Herausforderungen in der Schule, in der Ausbildung, im Studium, die nicht angemessene Nutzung sozialer Medien oder entwicklungsbedingte Probleme in diesem Lebensalter können auch mögliches Stresserleben der Betroffenen verursachen und damit für die Entstehung einer Depression mit ausschlaggebend sein .
Zentral erscheint jedoch häufig eine verzögerte oder unzureichende Inanspruchnahme ambulanter Behandlungsangebote, die eine Verschlechterung der depressiven Symptomatik und die Notwenigkeit eines stationären Aufenthaltes zur Folge haben können. Andererseits könnte ein verändertes Verständnis als auch eine erhöhte Sensibilisierung psychischer Gesundheitsfragen und die verbesserten Möglichkeiten zur diagnostischen Einschätzung ebenfalls eine Rolle in der Erkennung psychischer Störungen darstellen.
TK: Welche Besonderheiten hat die Erkrankung, wenn sie schon im Jugendalter oder im jungen Erwachsenenalter ausbricht, im Vergleich zu älteren Altersgruppen?
Professorin Oertel: Das Erkennung und eine frühzeitige Behandlung depressiver Störungen ist unabhängig vom jeweiligen Alter immer hilfreich, um das Rückfallrisiko zu minimieren. Wenn die Erkrankung bereits im Kindes- oder Jugendalter beginnt, ist das Risiko für einen Rückfall im späteren Alter erhöht. Von daher ist das frühzeitige Behandeln sehr wichtig für den weiteren Verlauf.
TK: Studien zufolge kommt es bei mindestens jedem fünften der im Krankenhaus behandelten Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu einer sogenannten Rehospitalisierung. Was sind die Gründe dafür?
Es ist essenziell, auch nach der Entlassung aus dem Krankenhaus ambulante Nachsorgeangebote wahrzunehmen und so das Rückfallrisiko zu reduzieren.
Professorin Oertel: Eine Rehospitalisierung bedeutet, dass Betroffene häufig im weiteren Verlauf nochmals in Behandlung gehen müssen, weil die Depression wiedergekommen ist. Um diese Rate möglichst gering zu halten, ist es essenziell, auch nach der Entlassung aus dem Krankenhaus ambulante Nachsorgeangebote wahrzunehmen und so das Rückfallrisiko zu reduzieren . Häufig ergeben sich Schwierigkeiten in der nahtlosen Anbindung von Patienten und Patientinnen, da es nicht nur an vereinheitlichten und festgelegten Prozeduren fehlt, sondern Betroffene mit diversen Herausforderungen, darunter lange Wartelisten, konfrontiert sind. Ein daraus resultierender Einfluss auf die Bereitschaft der Inanspruchnahme erscheint denkbar. Sicherlich spielen auch motivationale oder aber persönliche Faktoren einen Einfluss darauf, inwiefern diese Angebote von Betroffenen nach einem stationären Aufenthalt aufgesucht werden.
TK: Welche klassischen ambulanten Nachsorgeangebote stehen Jugendlichen und junge Erwachsenen nach einem Klinikaufenthalt üblicherweise zur Verfügung und vor welcher Herausforderung stehen sie nach der Entlassung, weswegen es Ihnen ggf. schwer fällt, nach ihrer Entlassung im Alltag wieder Fuß zu fassen?
Professorin Oertel: Zu den klassischen Nachsorgeangeboten zählen unter anderem sowohl die Inanspruchnahme einer ambulanten Psychotherapie bei niedergelassenen Psychotherapeuten oder Weiterbildungsinstituten als auch eine psychiatrische Anbindung bei Fachärzten. Dabei legen ambulante Psychiater ihren Fokus häufig auf eine medikamentöse Behandlung und die Durchführung kürzerer, entlastender Gespräche in größeren zeitlichen Abständen.
Schwer erkrankten Patienten und Patientinnen wird die psychiatrische Anbindung an den psychiatrischen Institutsambulanzen ermöglicht, wobei hierbei auf die begrenzten Kapazitäten der jeweiligen Ambulanzen hingewiesen werden sollte. Darüber hinaus lassen sich diverse niederschwellige Angebote wie Selbsthilfegruppen, Beratungsstellen oder aber digitale Gesundheitsanwendungen benennen.
Ein stationärer Aufenthalt in einer Klinik ist sowohl von einer hohen Dichte an Behandlungsangeboten als auch von einem erhöhten Strukturierungsgrad geprägt. Gerade beim Nichtvorhandensein eines sozialer Unterstützungsnetzwerkes, Vorhandensein einer Restsymptomatik oder aber motivationalen Schwierigkeiten ist ein adäquater Anpassungsprozess an den Alltag auch hinsichtlich der oben benannten Herausforderungen erschwert.
TK: Im iCAN-Projekt werden die Jugendlichen und jungen Erwachsenen in den ersten drei Monaten nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus in der Nachsorge per Smartphone begleitet. Welche digitale Unterstützung erhalten die jungen Menschen und wie erfolgversprechend schätzen Sie diese Maßnahme ein?
Professorin Oertel: Auf einer strukturellen Ebene besteht iCAN aus einer Smartphone-App und sogenannten psychologischen Tele-Gesprächen, wobei Betroffene durch Tele-Psychologinnen und -psychologen wöchentlich in einem Umfang von 30 Minuten über maximal zwölf Termine telefonisch begleitet werden.
Inhaltlich besteht die Anwendung aus sogenannten Kompetenztrainings, die auf Techniken der kognitiven Verhaltenstherapie sowie auf einem neurokognitiven Training basieren und in individuellen Trainingsplänen zusammengestellt werden. Das Training umfasst Themen wie den Aufbau positiver Aktivitäten, Umgang mit Gedanken, Selbstwert, besseres Schlafen, Strukturieren des Alltags, interpersonelle Fertigkeiten, Medienkompetenz, Sport, Umgang mit selbstverletzendem Verhalten und vieles mehr. Betroffene werden angeleitet, dreimal pro Woche für 15 bis 20 Minuten zu üben. Ziel des Kompetenztrainings ist dabei die Festigung der Inhalte, die im stationären Setting bereits kennengelernt wurden.
Begleitet werden die Teilnehmenden in der Anwendung zudem von einem Chatbot "Quinn", der die aktuelle Stimmung erfragt, störungsspezifische Inhalte vermittelt, Spiele anbietet und die Betroffenen zur Durchführung der Trainings motiviert. Ergänzt werden die beschriebenen Bereiche durch den Anschlussnavigator, der die Anbindung an ambulante Nachsorgeangebote fördern soll. Dabei werden Informationen sowohl über regionale Nachsorgeangebote - also Kliniken, Beratungsstellen, ambulante Therapiemöglichkeiten und Selbsthilfegruppen - als auch Möglichkeiten zur Inanspruchnahme angezeigt.
Der Symptomverlauf und die Inanspruchnahme ambulanter Nachsorgeangebote werden in einem wöchentlichen Check-up erfasst und im Falle einer Krise ist ein Notfallbereich über das Dashboard der Anwendung erreichbar. Hierbei sind sowohl Informationen zum Umgang mit Krisensituationen und Notfallnummern hinterlegt.
Bereits nach zweiwöchiger Nutzung der Smartphone-App verringert sich die depressive Symptomatik.
Eine im Voraus an die aktuelle Untersuchung durchgeführte Pilotstudie des Lehrstuhls für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Greifswald konnte nach zweiwöchiger Nutzung der Smartphone-App eine signifikante Verringerung der depressiven Symptomatik sowie eine Verbesserung des Funktionsniveaus in den Bereichen Arbeit und Schule feststellen. Damit gibt es erste Hinweise auf den potenziellen Nutzen der Anwendung, der durch die aktuelle Studie weiterhin untersucht wird.
TK: Haben Sie bereits erste junge Patientinnen und Patienten auf das iCAN-Projekt angesprochen und wie ist deren Interesse, dabei mitzumachen?
Professorin Oertel: Im Rahmen der Rekrutierung von Studienteilnehmern haben wir bereits eine Vielzahl an Patientinnen und Patienten auf das Angebot aufmerksam gemacht und über die Studie aufgeklärt. Durch die Plakate und Flyer wurden wir auch von interessierten Patienten und Patientinnen angesprochen, sodass wir von einem erhöhten Interesse ausgehen können. Auch aus anderen Altersbereichen haben wir regelmäßige Anfragen, die wir hinsichtlich der Einschlusskriterien leider ablehnen mussten. Wir sind jedoch auch weiterhin auf der Suche nach interessierten Patienten und Patientinnen im Altersbereich 18 bis 25 Jahren, die sich aktuell aufgrund einer depressiven Symptomatik in stationärer Behandlung befinden und noch nicht ambulant angebunden sind.
Wir sind auf der Suche nach Patientinnen und Patienten, die an der Studie teilnehmen möchten.
TK: Welche Erfahrungen haben Sie bislang mit digitalen Tools bei der Behandlung von Menschen mit Depressionen gesammelt und welche Perspektiven der digitalen Möglichkeiten sehen Sie für die Zukunft in der Versorgung von Menschen mit Depressionen?
Professorin Oertel: Abgesehen von der Verschreibung digitaler Gesundheitsanwendung in unserem Haus, bietet die Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie die Behandlung von depressiven Störungen in der Virtuellen Realität. Hierbei werden im Rahmen eines Forschungsprojekts verschiedene soziale Bewertungssituationen gezeigt, die dann von den Patientinnen und Patienten beurteilt werden. Im Anschluss werden die Situationen mittels verhaltenstherapeutischer Techniken nachbesprochen.
TK: Welche Frühwarnzeichen sollten Eltern und Lehrkräfte im Hinblick auf Depressionen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen beachten und wie können sie angemessen darauf reagieren?
Professorin Oertel: Die Symptome einer Depression können je nach Alter der Betroffenen und des Entwicklungsstands unterschiedlich ausgeprägt sein. Neben den "klassischen Symptomen" wie Traurigkeit, sozialer Rückzug, Verlust des Selbstwertgefühls und Antriebsverlust können durchaus gerade in jüngeren Altersbereichen Symptome wie körperliche Beschwerden - beispielsweise Kopf- oder Bauchschmerzen - oder Problemen im Ess- oder dem Schlafverhalten erstmal offensichtlicher sein, so dass die Depression zunächst nicht immer direkt als solche erkannt wird.
Wichtige Frühwarnzeichen sind neben den genannten noch weitere Veränderungen in den Gefühlen - beispielsweise Traurigkeit oder auch Reizbarkeit oder das Unvermögen, Gefühle ausdrücken zu können, im Verhalten - also weniger Aktivitäten, weniger Kontakt zu Freunden und Familien - und eventuell Lebensüberdrussgedanken. Nicht selten bemerken Angehörige auch einen Leistungsabfall in der Schule, in der Ausbildung oder im Studium oder zumindest eine Abnahme der Konzentrationsfähigkeit.
TK: Welche Präventionsstrategien empfehlen Sie, um das Risiko von Depressionen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu verringern?
Professorin Oertel: Neben der Förderung des Bewusstseins und der Entstigmatisierung durch wiederkehrende Unterstützung eines Diskurses und der Schaffung einer Repräsentation mithilfe von Aufklärungs- und Informationskampagnen erachte ich auch die Förderung der Widerstandsfähigkeit und der Fähigkeiten im Umgang mit den Stressoren als relevanten Faktor zur Prävention von Depression.
Widerstandsfähigkeit und Fähigkeiten im Umgang mit Stress sind relevanten Faktoren zur Vorbeugung einer Depression.
Die Vermittlung von wichtigen störungsspezifischen Informationen, die Förderung emotionaler Kompetenzen und zur Einhaltung eines gesunden Lebensstils mithilfe der Unterstützung einer ausgewogenen Ernährung und ausreichenden Bewegung können wichtige Bausteine darstellen.
Gerade im Zusammenhang mit bestimmten Risikofaktoren wie einer familiären Vorbelastung ist die Bereitstellung niederschwelliger Unterstützungsangeboten sicherlich unerlässlich.
Zur Person:
Apl. Prof. Viola Oertel ist als leitende Psychologin in der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Universitätsklinikums Frankfurt tätig. Neben ihrer Tätigkeit in der klinischen Versorgung stationärer Patientinnen und Patienten ist sie an verschiedenen Forschungsprojekten beteiligt, die unter anderem Effekte von Interventionen und Therapieansätzen auf die psychische Gesundheit von Betroffenen untersuchen. Weiterhin beschäftigt sich Frau Oertel mit der Erforschung von Kognitionen und Emotionen sowie deren genetische und hirnphysiologische Assoziationen bei psychischen Störungen.