Interview mit Dr. Christine Brähler über Selbstmitgefühl
Selbstmitgefühl - was soll das sein? Sich selbst lieb haben? Klingt reichlich auf sich selbst bezogen. Dabei gibt es in der Welt so viele Dinge zu tun und in Ordnung zu bringen. Die Psychotherapeutin Dr. Christine Brähler kennt diese Vorbehalte gegenüber Selbstmitgefühl- sie war selbst skeptisch, als sie erstmals damit in Berührung kam. Doch die Forschung zeigt, wie sehr wir Menschen Wohlwollen brauchen, um uns sicher fühlen und uns entwickeln zu können. Im Interview erklärt Dr. Brähler uns, warum und wie wir uns dieses Wohlwollen auch selbst geben können.
Frau Dr. Brähler, was ist Selbstmitgefühl?
Etwas ganz Natürliches! Wenn es jemandem schlecht geht, der uns am Herzen liegt, wird unser Herz weicher, wir empfinden Wärme, wir wollen helfen. Das ist Mitgefühl. Dieses Mitgefühl können wir auch uns selbst geben. Zum Beispiel, indem wir uns liebevoll zur Seite stehen, wenn wir belastet oder krank sind. Indem wir einen wohlwollenden Blick auf uns selbst haben und uns in dem Moment eine perfekte Freundin oder ein perfekter Freund sind. Wir können uns selbst fragen: "Hey, wie geht es mir, und was brauche ich jetzt wirklich?" Das Mitgefühl, das wir andern Menschen gegenüber empfinden, richten wir auf uns selbst. Und wir sorgen dafür, dass es uns so gut wie möglich geht.
Wie kann Selbstmitgefühl gegen Ängste, Sorgen und Grübeln helfen?
Selbstmitgefühl basiert auf Achtsamkeit. Wenn man lernt zu meditieren und achtsam zu sein, dann lernt man auch, schwierige Emotionen zu regulieren. Das heißt, sie nicht zu unterdrücken oder wegschieben zu wollen. Stattdessen benennen wir die Gefühle. Das macht etwas im Hirn: Die Amygdala und das Bedrohungssystem beruhigen sich. Wir wenden uns nach innen, statt die Gefühle auszuagieren oder uns in Gedanken über Emotionen zu verstricken. Wir spüren den Körper, statt darüber nachzudenken. Dabei aktivieren wir Netzwerke im Gehirn, die dem entgegenwirken, was normalerweise passiert.
Fragen Sie sich selbst: "Hey, wie geht es mir, und was brauche ich jetzt wirklich?
Was passiert denn normalerweise?
Wenn wir schwierige Situationen und Bedrohungen erleben, dann springt normalerweise ein spezielles Netzwerk im Gehirn an, das sogenannte default mode-Netzwerk. Wir suchen damit nach Lösungen, denn wir wollen die Situation verbessern. Dieses Netzwerk hält immer Ausschau nach Problemen, über die es sich Gedanken machen kann. Und es hört nicht auf, nach Lösungen zu suchen, bis es eine gefunden hat. Aber manchmal haben wir Probleme, die wir nicht direkt lösen können. Dann führt uns das default mode-Netzwerk in eine Endlosschleife, und wir grübeln.
Was ist anders, wenn wir achtsam sind statt zu grübeln?
Wenn wir uns achtsam auf den Körper konzentrieren und spüren, was wir gerade in diesem Moment empfinden, aktivieren wir andere Hirnareale. Zum Beispiel solche, die die Körperempfindungen verarbeiten. Damit treten wir aus dem default mode-Netzwerk heraus, und die Gedanken beruhigen sich.
Achtsamkeit lernen
Wie hängt das mit Selbstmitgefühl zusammen?
Wenn ich achtsam bin und merke, mir geht es schlecht oder ich habe Angst, kann ich mir selbst Fürsorge geben. Zum Beispiel mit Wärme oder einer beruhigenden Berührung. Ich kann mich auch mit Leuten umgeben, mit denen ich mich sicher und geborgen fühle. Außerdem ist wichtig, wie ich mit mir selbst rede. Am besten wie eine perfekte Freundin oder eine perfekte Oma - wie eine innere mitfühlende, weise Stimme.
Damit aktivieren wir unser Fürsorgesystem. Dieses Fürsorgesystem ist in uns fest verdrahtet, wir alle haben es. Es ist Teil unserer biologischen Ausstattung als Säugetiere und hängt mit der Brutpflege zusammen. Wir können dieses System bewusst aktivieren.
Das Fürsorgesystem ist in uns fest verdrahtet.
Wie kann ich Selbstmitgefühl einsetzen, wenn ich im Stress bin?
Wenn es Ihnen schlecht geht und Sie merken, da ist Angst, Traurigkeit, Wut oder emotionales Unbehagen: Drücken Sie bitte das Gefühl nicht weg. Besser, Sie nehmen sich einen Moment Zeit und gehen direkt in das Fürsorgesystem hinein, zum Beispiel durch eine Berührung. Für viele Menschen ist es angenehm, wenn sie sich die Hand in die Mitte der Brust legen, sozusagen die Hand aufs Herz. Probieren Sie das einfach mal aus und lassen Sie es wirken. Spüren Sie die Wärme. Der Körper reagiert darauf automatisch. Dann dreimal tief ausatmen und seufzen und zu sich selbst sagen: "Hey, das ist jetzt wirklich anstrengend!" Damit aktivieren Sie die körpereigenen und beruhigenden Prozesse der Fürsorge.
Sie können sich dann vorstellen, Sie hätten ein ideales Wesen bei sich oder vielleicht sogar einen echten Menschen, den Sie erlebt haben, bei dem Sie wissen: Ich bin geliebt, wie ich bin. Ich bekomme genau die Unterstützung, die ich brauche. Ein Wesen mit ganz viel Weisheit und Gelassenheit. Es kann ein guter Freund sein oder eine Lehrerin oder sogar ein Haustier. Er oder sie begleitet mich liebevoll durch dick und dünn... Stellen Sie sich dieses ideale Wesen in der Fantasie oder aus der Erinnerung vor, öffnen Sie sich dafür und spüren Sie, wie das ist.
Und danach fragen Sie sich: "Was würde mich jetzt wahrhaftig unterstützen, um die Situation besser auszuhalten?" Vielleicht ein radikales Verständnis: "Es ist so nachvollziehbar, dass du dich so fühlst." Und sich das spüren lassen. Zu wissen, dieses liebevolle Wesen verurteilt mich nicht, ich darf so sein. Keine Lösungen suchen, sondern sich einfach nur in der imaginierten Gegenwart dieses Wesens spüren. Und wenn es dieses Wesen real gibt, zeitnah den Kontakt suchen.
Selbstmitgefühl
Was ist Ihr wichtigster Ratschlag für Leute, die sich im Grübeln und kreisenden Gedanken verlieren?
Wenn Sie das merken, klopfen Sie sich zuallererst auf die Schulter und sagen Sie sich: "Das ist ein Zeichen, dass ich ein gesundes Gehirn habe." Das Gehirn will uns helfen und Lösungen finden. Wir alle haben diesen Mechanismus. Kritisieren Sie sich nicht dafür. Und dann können Sie versuchen, einmal achtsam in den Körper oder in die Fußsohlen zu spüren. Sie könnten zum Beispiel barfuß in der Wohnung herumlaufen und spüren, wie das ist. Oder Sie richten die Aufmerksamkeit nach außen, nehmen die Geräusche aus Ihrer Umgebung wahr oder schauen aus dem Fenster und beobachten, was sich dort bewegt.
Kann Selbstmitgefühl auch negative Effekte haben?
"Wenn ich mir bedingungslose Liebe schenke oder sie von anderen bekomme, dann entdecke ich die Bedingungen, unter denen ich nicht geliebt wurde."
Manche Menschen haben am Anfang Schwierigkeiten, sich selbst mitfühlend zu begegnen oder sich ein mitfühlendes Wesen vorzustellen. Kristin Neff und Christopher Germer, die in den USA viel zum Thema Selbstmitgefühl arbeiten, haben dafür einen schönen Satz geprägt: "Wenn ich mir bedingungslose Liebe schenke oder sie von anderen bekomme, dann entdecke ich die Bedingungen, unter denen ich nicht geliebt wurde."
Wenn jemand vernachlässigt oder missbraucht wurde, kann es schwierig oder schmerzvoll sein, den Zugang zum Selbstmitgefühl zu finden. Das heißt nicht, dass es bei diesen Menschen nicht funktioniert. Wenn sie in ihrem Leben - vielleicht auch später im Leben - ausreichend Bindungspersonen gehabt hat, die ihnen Sicherheit und Geborgenheit gegeben haben, dann springt das Mitgefühl an.
Wenn jemand diese sicheren Bindungen aber nicht gehabt hat, können negative Erinnerungen und Gefühle auftauchen, wenn er oder sie Liebe oder Mitgefühl von anderen bekommt. So wie die Erinnerung: In dem Moment, wo ich Fürsorge gebraucht hätte, wurde ich emotional oder körperlich missbraucht, oder die Person war nicht da oder ist einfach verschwunden oder gestorben. Sich einen mitfühlenden Begleiter vorzustellen, führt bei diesen Menschen zu unangenehmen Gefühlen. Ihr Bedrohungssystem wird aktiviert, weil diese Erinnerungen hochkommen.
Selbstmitgefühl können viele erlernen, aber manchmal braucht man auch erst einmal eine echte Person, die Mitgefühl hat.
Das heißt nicht, dass diese Personen Selbstmitgefühl nicht lernen können, aber es braucht vielleicht eine individuelle Begleitung. Das ist schon anspruchsvoll. Es ist die Idee, dass ich mir das selbst gebe, was ich von jemandem von außen gebraucht hätte. Wenn ich es noch nie erlebt habe, muss ich es vielleicht erst mal von einer anderen Person bekommen, um es mir später selbst geben können.
Die Anleitungen zum Selbstmitgefühl klingen manchmal etwas esoterisch. Das kann Menschen abschrecken. Wie sind Ihre Erfahrungen damit?
(lacht) Ich habe am Anfang selbst allergisch auf die Übungen zum Selbstmitgefühl reagiert, als Christopher Germer nach Glasgow kam - dort forschte ich damals an der Uni - und uns die Methoden vorstellte. Ich habe gedacht: So ein amerikanisches Weichspülen, das kann man ja nicht ernst nehmen! Diese allergischen Reaktionen sind total normal.
Aber wenn wir mal genauer hinschauen, sehen wir: Wir alle sind soziale Wesen. Unser Bedürfnis nach Bindung haben wir von der Wiege bis zur Bahre. Wir brauchen eine Verbindung zu anderen, aber eine, wo wir nicht etwas leisten müssen oder dominiert werden, sondern wo wir einfach so sein können, wie wir sind, wo wir uns wohl und geborgen fühlen können. Und das ist das, was wir mit Selbstmitgefühl aktivieren.
Selbstmitgefühl gibt uns mehr Ressourcen - für uns selbst und für andere.
Es ist wichtig anzuerkennen, dass es Bedenken gibt. Wenn ich Selbstmitgefühl unterrichte, frage ich manchmal: Was ist das Schlimmste, das passieren könnte, wenn Sie mitfühlender mit sich werden? Die Leute sagen dann zum Beispiel: Dann werde ich egoistischer. Oder: Dann verliere ich meinen Antrieb.
Ich erkläre dann, dass die Forschung gezeigt hat, dass das alles nicht zutrifft. Stattdessen macht uns Selbstmitgefühl resilienter nach Belastungen. Wir haben mehr Kapazität, für andere da zu sein, weil wir Verantwortung übernommen haben für unsere Bedürfnisse, anstatt zu hoffen, dass jemand anders sie uns erfüllt. Selbstmitgefühl gibt uns mehr Ressourcen - für uns selbst und für andere.