"Mund-zu-Mund-Propaganda ist hilfreicher als mancher Flyer"
Interview aus Baden-Württemberg
Das Projekt "Gesundheitslotsen für Migrantinnen und Migranten" der Landeshauptstadt Stuttgart ging im Oktober 2018 als erste Maßnahme in sogenannter "trägerübergreifender" Projektförderung an den Start.
Fast 60 Prozent der Gesamtkosten übernimmt die Stiftung für gesundheitliche Prävention Baden-Württemberg aus Mitteln der Gesetzlichen Krankenversicherung und der Unfallkasse Baden-Württemberg. Schon jetzt steht fest, dass der Gemeinderat der Stadt Stuttgart das Gesundheitslotsenprojekt nach Ablauf der Projektförderung im Oktober 2022 weiterführen und selbst finanzieren wird. Ein großer Erfolg für die (Mit-)Initiatoren Heinz-Peter Ohm vom Gesundheitsamt Stuttgart und Marc-Sidney Litzkow von der Techniker Krankenkasse.
TK: Herr Ohm, es kommt nicht so häufig vor, dass Präventionsprojekte zu langfristigen Maßnahmen werden. Was macht den Erfolg der Gesundheitslotsen und Gesundheitslotsinnen aus?
Heinz-Peter Ohm: Zum einen ist dieses Projekt sehr partizipativ angelegt. Wir begegnen den Menschen auf Augenhöhe, wir beteiligen sie und schreiben ihnen nicht die Inhalte vor, wir entwickeln gemeinsam die Themen und wir lernen auch selbst viel von den Migrantinnen und Migranten.
Zum anderen haben wir die Notwendigkeit und den Bedarf, bessere Zugänge zu den Migrantinnen und Migranten zu schaffen, und diese Art von Projekt sowie die Einbindung von sogenannten "Peers" ist eine gute und bewährte Strategie.
TK: Wie finden Sie Menschen für diese Aufgabe und was ist deren Motivation?
Ohm: Viele Migranten und Migrantinnen sehen selbst die Sorgen und Probleme in ihren Communities und wollen gerne helfen. Viele von ihnen haben auch einen medizinischen oder pädagogischen Hintergrund oder sind den Gesundheitsthemen gegenüber sehr aufgeschlossen. Um diese Multiplikatorinnen und Multiplikatoren zu finden, müssen wir selbst in die Communities gehen und dafür werben. Es hat sich gezeigt, dass Mund-zu-Mund-Propaganda hilfreicher ist als mancher Flyer.
TK: Herr Litzkow, Sie waren an der Konzeption mitbeteiligt und haben beim Projektantrag unterstützt. Wie kam diese Zusammenarbeit zustande und was war der Grund für das Engagement der TK?
Marc-Sidney Litzkow: Herr Ohm hatte uns und anderen Beteiligten die Idee vorgestellt, um die Möglichkeit einer Förderung durch die Stiftung für gesundheitliche Prävention Baden-Württemberg auszuloten. Die Projektskizze ließ erkennen, wie sinnvoll und erfolgsversprechend das geplante Vorgehen sein könnte. Es war aber klar, dass man an der einen oder anderen Stelle nachjustieren musste, damit der Antrag letztendlich den bestehenden Kriterien entsprechen konnte.
Es hat mir großen Spaß gemacht, die Projektverantwortlichen beim Erstellen des finalen Konzepts fachlich zu beraten. Grundsätzlich haben wir als TK bei der Präventionsarbeit das Prinzip "Hilfe zur Selbsthilfe" schätzen gelernt. Wenn wir Multiplikatorinnen und Multiplikatoren schulen, verbreitert und verzweigt sich der Informationsfluss. Im Endeffekt werden so viel mehr Menschen erreicht als etwa durch punktuelle Vorträge von Expertinnen und Experten.
TK: Herr Ohm, wie hat sich die Arbeit im Projekt im Lauf der vier Jahre verändert, vor allem auch durch die Corona-Pandemie?
Ohm: Die Corona-Pandemie hat für einen großen Einschnitt gesorgt. Die Lotsen und Lotsinnen waren ja ausgebildet, um in Gruppenveranstaltungen ihre Botschaften zu übermitteln, was von heute auf morgen nicht mehr möglich war. Mit den neuen Medien oder mit Online-Veranstaltungen haben sich viele sehr schwer getan. Letztendlich ging es auch inhaltlich dann fast nur noch um die Corona-Pandemie, da in den entsprechenden Communities viele "fake-news" umherschwirren. Außerdem wurde über Quarantänezeiten, Abstandsregeln, Testungen und Impfungen etc. informiert - vielfach improvisiert unter freiem Himmel oder auch in anderen Formaten, wie z. B. über Radiosendungen.
Aktuell haben wir zudem eine große Gruppe von ukrainischen Geflüchteten in einem Schnelldurchgang geschult, weil die Not hierzu sehr groß war und es hohe Bedarfe gab. Die Arbeit der Lotsinnen und Lotsen, die teilweise auch übersetzen, wenn andere Fachleute dabei sind, hat sich also in Krisenzeiten bewährt, zumal nicht alle Veranstaltungsformen möglich waren.
TK: Konnten Sie schon erste Lehren aus dieser besonderen Situation ziehen, gab es auch positive Aspekte?
Ohm: Durch die Pandemie und den Zwang zur Distanz und Isolation sind uns ausgebildete Gesundheitslotsinnen und -lotsen verlorengegangen, was wir sehr bedauern. Positiv erleben wir das andauernde Engagement der Menschen aus den Migrantencommunities, wie es sich jetzt auch in der aktuellen Flüchtlingskrise wieder gezeigt hat. Wir freuen uns schon sehr darauf, bald mit den Gesundheitslotsinnen und -lotsen in Präsenz zusammenzukommen, um das Projekt wieder zu all den wichtigen Themen zu reaktivieren, die in der letzten Zeit nicht umgesetzt werden konnten. Wahrscheinlich werden wir auch neue Gesundheitslots*innen suchen und ausbilden, was allen Beteiligten sicher neuen Schwung gibt.
TK: Wie geht es nun weiter und welche Konsequenzen hat die Zusage des Gemeinderats zur Verstetigung?
Ohm: Wir sind erstmal sehr dankbar, dass wir dieses Pilotprojekt mit den Mitteln der Stiftung, den Krankenkassen und der Unfallkasse umsetzen konnten. Ohne diese Pilotphase hätten wir das Projekt nicht verstetigen können. Es braucht derartige Probeszenarien, um die Wirksamkeit solcher Maßnahmen darzustellen, was uns wohl ganz gut gelungen ist und was uns jetzt, insbesondere für die Migrant*innen in unserer Kommune, sehr freut.
TK: Herr Ohm, Herr Litzkow - könnte das Konzept auch als Blaupause für andere Städte und Kommunen dienen? Gibt es hier eventuell schon einen Austausch?
Ohm: Ja, es gibt bereits ein Netzwerk von interessierten Kommunen und Trägern in Baden-Württemberg, die in einem regelmäßigen Austausch zu solchen Projekten sind. Dabei sind nicht alle Projekte gleich, jede Kommune hat andere Voraussetzungen, andere Rahmenbedingungen, andere Migrantencommunities etc., die es zu berücksichtigen gilt. Aber das ist auch die Stärke unseres Konzepts, dass es je nach den Möglichkeiten vor Ort angepasst und umgesetzt werden kann.
Litzkow: Wir haben TK-intern einen Best practice-Austausch, bei dem wir regelmäßig erfolgreiche Projekte, die auch in anderen Regionen sinnvoll sein können, vorstellen. Die gesundheitliche Information und Versorgung von Geflüchteten ist ja bundesweit und allerorts ein Thema, deshalb sind Ideen, die wir für das Stuttgarter Projekt entwickelt haben, bzw. Erfahrungen, die wir gemacht haben, auch schon in andere Maßnahmen eingeflossen.
Hintergrund
Gesundheitslotsinnen und Gesundheitslotsen für Migrantinnen und Migranten in Stuttgart können für Informationsveranstaltungen angefragt werden. Themen wie "Das deutsche Gesundheitssystem", "Gesundheitsförderung und Prävention", "Gesunde Ernährung", "Bewegung", "Gesunde Zähne", "Kindergesundheit" und "Gesund alt werden" stehen zur Auswahl. Wenn gewünscht, finden die Veranstaltungen in der entsprechenden Landessprache statt. Sie sind kostenfrei und richten sich für eine gute Breitenwirkung immer an kleinere und größere Gruppen, nicht an Einzelpersonen. Denkbar sind Angebote in Stadtteileinrichtungen, Begegnungsstätten, Familienbildungsstätten, Kirchgemeinden, Moscheen, Kulturzentren oder Sportvereinen. Die aktuell Geschulten kommen aus der Türkei, Jordanien, Libanon, Mexiko, Eritrea, Kolumbien, Irak, Iran, Syrien, Ägypten, Kasachstan, Ukraine und aus Afghanistan oder haben ihre Wurzeln in diesen Ländern.
Zu den Personen
Der 61-jährige Heinz-Peter Ohm studierte Sozialwissenschaften an der Georg-August-Universität in Göttingen und spezialisierte sich auf das Thema der Gesundheitsförderung und Gesundheitsplanung an der Niedersächsischen Akademie für Gesundheitsförderung in Hannover. Nach rund vier Jahren als Präventionsberater bei einer gesetzlichen Krankenkasse wechselte er 1998 an das Gesundheitsamt Stuttgart. Er leitet dort die Abteilung Gesundheitsplanung und Gesundheitsförderung und ist zudem Sprecher der Kommunalen Gesundheitskonferenzen in Baden-Württemberg.
Marc-Sidney Litzkow ist seit 2011 als Referent für Gesundheitsmanagement bei der TK im Einsatz. Er studierte Sportwissenschaften an der Freien Universität Berlin und spezialisierte sich früh auf gesundheitsökonomische Aspekte. Bereits 2000 begleitete der heute 46-Jährige eine der ersten ambulanten Rehakliniken in Deutschland, leitete verschiedene medizinische Abteilungen und war an der Gründung zweier ambulanter Rehabilitationseinrichtungen beteiligt. 2018 wurde er in den Koordinierungsausschuss der Stiftung für Gesundheitliche Prävention Baden-Württemberg berufen, in dem er bei der Vergabe von Fördermitteln für die TK mitentscheidet.