„Die Heimlichkeit hatte einen gewissen Reiz“
Interview aus Hessen
Die Pornografie-Nutzungsstörung (PNS) - kurz: Pornosucht - ist eine psychische Erkrankung, die Betroffene immer wieder dazu führt, pornografisches Material zu konsumieren. Im Innovationsfondsprojekt "PornLoS" können Betroffene an einem besonderen Behandlungsprogramm teilnehmen.
Wir haben mit Thomas Baumeister (Name von der Redaktion geändert) über seine Pornosucht gesprochen. Er arbeitet im Beirat des PornLoS-Projekts mit, das Rudolf Stark, Professor für Psychotherapie und Systemneurowissenschaften an der Justus-Liebig-Universität Gießen, initiiert hat.
TK: Wann kamen Sie das erste Mal mit Pornografie in Berührung?
Thomas Baumeister: Das war vor etwa zehn Jahren, ich war Mitte/Ende 40 und schon einige Jahre verheiratet. Ohne dass ich mich heute an einen speziellen Auslöser erinnern kann, habe ich begonnen, gelegentlich einen Pornofilm anzuschauen. Gerade die Heimlichkeit hatte einen gewissen Reiz für mich. Meiner damaligen Partnerin habe ich das nicht offenbart. Aus dem gelegentlichen wurde ein immer häufigeres Schauen. Rückblickend würde ich sagen, dass sich nach etwa fünf Jahren die Pornosucht entwickelt hat, das war ein schleichender Prozess.
Es hat wirklich lange gedauert bis ich begriff, dass ich suchtkrank bin.
Aber da ich, bis die PNS auftrat, keinerlei Probleme mit Suchterkrankungen hatte, dauerte es wirklich lange bis ich begriff, dass ich suchtkrank bin. Das ist mir erst vor ein bis zwei Jahren bewusst geworden.
TK: Hat die leichte Verfügbarkeit von pornografischem Material für Sie eine Rolle gespielt?
Baumeister: Es ist schon erstaunlich - und wenn ich an den leichten Zugang für Minderjährige denke auch erschreckend - wie problemlos Pornografie auf bestimmten Onlineportalen erreichbar ist. Da appelliere ich schon auch an die Verantwortung der Betreiber, dass Minderjährige, die mit einem Klick behaupten können, bereits volljährig zu sein, nicht so leichten Zugang zu dieser Welt bekommen sollten.
Ich selbst hätte vielleicht etwas weniger pornografisches Material konsumiert, wenn der Zugang kostenpflichtig gewesen wäre. Aber in einem gewissen Umfang hätte ich gewiss auch gezahlt und wäre vielleicht sogar an meine finanzielle Grenze geraten. Denn nachdem ich einmal mit der Pornografie in Berührung gekommen war, empfand ich eine unwiderstehliche Sogwirkung.
TK: Was würden Sie sagen: Wie hat die PNS Sie verändert?
Baumeister: Bei der Ausprägung meiner PNS dürfte es sich um einen eher leichteren Fall handeln. Ich werde nicht wegen illegaler Inhalte straffällig, ich bin nicht wegen irgendwelcher Bezahlinhalte verschuldet und werde auch nicht in komödienreifer Szene beim Konsum am Arbeitsplatz erwischt.
Ich merke sehr deutlich, wie die PNS einen Teil meiner Persönlichkeit schleichend negativ verändert und mir gerade für Partnerschaften massiv im Wege steht.
Aber ich merke sehr deutlich, wie die PNS einen Teil meiner Persönlichkeit schleichend negativ verändert und mir gerade für Partnerschaften massiv im Wege steht. Mit etwas Wissen darüber hätte ich es wahrscheinlich schon früher gemerkt.
TK: Welche Auswirkungen hatte der Konsum für Ihre Partnerschaft?
Baumeister: Nach meiner Scheidung vor einigen Jahren, bei der die PNS keine Rolle spielte, hatte ich zwei weitere Partnerschaften. Währenddessen ging mein Pornokonsum jeweils zurück. Doch seit ich alleinstehend bin, hat er wieder einen bedeutenderen Platz in meinem Leben eingenommen, und zwar völlig losgelöst von meinen eigentlichen Bedürfnissen nach Zärtlichkeit und Sexualität. Ich brauche die Pornos, um den Stress eines Arbeitstags abzureagieren oder um mich von belastenden Gedanken und Gefühlen oder von meinem unerfüllten Bedürfnis nach körperliche Nähe abzulenken. Die Pornografie gibt mir einen "Kick", einen Glücksrausch, vielleicht vergleichbar mit dem, was Süchtige erleben, die ein stoffliches Rauschgift konsumieren.
Mein Hauptproblem heute ist, dass sich mein sexuelles Erleben vom persönlichen Erleben in der Partnerschaft ganz weit weg entwickelt hat. Ich erlebe Sexualität, aber sie spielt sich in einer virtuellen Welt ab. Meine größte Befürchtung ist daher, in der realen Welt nicht mehr klarzukommen, dass eine Partnerschaft nicht mehr klappen könnte.
Meine größte Befürchtung ist, in der realen Welt nicht mehr klarzukommen und dass eine Partnerschaft nicht mehr klappen könnte.
Ich kann mir auch nicht vorstellen, mich einer potenziellen neuen Partnerin gegenüber zu outen, dazu ist meine Schamschwelle zu hoch. Ich schäme mich, weil ich in einem Bereich, der für mich und meine Partnerin wichtig wäre, nicht mehr funktioniere.
TK: Wie haben Sie erkannt, dass ihr Pornografie-Konsum über ein normales Maß hinausgeht?
Baumeister: Zunehmend konnte ich nicht mehr widerstehen. Selbst wenn ich das Handy in meiner Wohnung ganz bewusst in einen anderen Raum gelegt habe, habe ich es mir letztendlich ins Schlafzimmer geholt. Dabei ist mir ist klargeworden: Ich habe keine Kontrolle mehr über meinen Pornokonsum. Weil ich mit niemandem darüber sprechen wollte, habe ich zunächst in der Anonymität des Internets zum Thema recherchiert und bin auf eine Veröffentlichung von Professor Stark gestoßen. Was ich las, passte wie die Faust aufs Auge auf meinen Fall. Als ich Ende 2022 das erste Mal mit ihm persönlich sprach, war das mein Outing.
TK: Wie schwer fiel Ihnen das Outing?
Baumeister: Es fiel mir schon schwer. Aber Professor Stark geht sehr professionell mit dem Thema um, das hat mir geholfen. Nichts von dem, was ich ihm erzählte, konnte ihn schocken. Er blieb im Gespräch immer wertschätzend und fragte mich schließlich, ob ich im Projektbeirat des Innovationsfondsprojekts "PornLoS" mitarbeiten wolle, um meine Erfahrungen als Betroffener einzubringen. Es fiel mir überhaupt nicht schwer "Ja" zu sagen. Das bedeutet auch, dass ich mich nicht gleichzeitig als Patient für eine Teilnahme im Projekt bewerben könnte. Ich würde von einer Therapie im Rahmen des Projekts sicherlich profitieren, kann mir das aber aufgrund meiner Scham für mich momentan nicht vorstellen - zumindest noch nicht.
TK: Was reizt Sie an der Arbeit im Beirat?
Baumeister: Ich kann durch diese Arbeit auf das Thema Pornosucht aufmerksam machen und dazu beitragen, dass die PNS als schambehaftetes Thema aus ihrer dunklen Ecke herausgeholt und ganz nüchtern als eine von vielen Suchtformen betrachtet wird. Der Beirat beschäftigt sich absolut professionell mit der Suchtthematik und ich bringe meine Erfahrungen als Betroffener ein. Dadurch schaue ich mittlerweile anders auf die PNS.
TK: Was betrachten Sie jetzt anders?
Baumeister: Ich habe mich selbst lange nicht als Suchtpersönlichkeit gesehen. Die PNS als Sucht zu begreifen und für mich zu akzeptieren, das war keine schöne Erkenntnis. Leichter gemacht hat mir, dass ich mit dem Problem nicht allein bin, es gibt weitere Betroffene. Das weiß ich heute. Zudem mache ich gerade die Erfahrung, wie schwer es ist, aus einer Sucht wieder rauszukommen, nachdem man einmal hineingeraten ist.
Es gibt aber auch einen kleinen Erfolg: Je länger ich mich mit der PNS professionell auseinandersetzte, desto häufiger stellte ich mir die Frage: Was mache ich hier eigentlich? Tut mir das gut? Dieses Bewusstsein führte dazu, dass die "Spitzen" meiner Sucht abgemildert worden sind. Über viele Jahre hat meine Pornosucht an den Wochenenden einen großen Raum eingenommen. In den letzten Monaten sind die ganz heftigen Tage, an denen ich mich viele Stunden für den Pornokonsum zurückziehe, nicht mehr vorgekommen.
TK: Hat oder hatte Ihre Sucht auch Auswirkungen auf den Beruf?
Baumeister: Ich trage in dem Unternehmen, für das ich arbeite, eine hohe Verantwortung als Fachkraft im technischen Bereich, so dass ich beruflich eher zu viel als zu wenig zu tun habe. Das Stresslevel in meinem Alltag ist meist hoch, die Arbeitszeiten lang. Da bleibt in der Regel schlichtweg keine Zeit für anderes. Meine Pornosucht bricht daher erst am Abend und am Wochenende durch.
TK: Falls Sie zu einem späteren Zeitpunkt professionelle therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen sollten: Welches Ziel hätten Sie? Abstinenz oder reduzierte Nutzung?
Baumeister: Ich empfinde eine große Scham über meine Erkrankung und kann darüber mit den Personen in meinem privaten Umfeld nicht sprechen. Daher tut es mir enorm gut, mich im Beirat auf professioneller Ebene auszutauschen. Ob oder wann ich meine Scham überwinden und eine Psychotherapie beginnen könnte, kann ich Ihnen nicht sagen.
Ich empfinde eine große Scham über meine Erkrankung. Es wäre eine schreckliche Vorstellung für mich, gesehen und erkannt zu werden, während ich eine psychotherapeutische Praxis betrete oder verlasse.
Zusätzlich zur Hürde, über das Thema zu sprechen, wäre es auch eine schreckliche Vorstellung für mich, gesehen und erkannt zu werden, während ich eine psychotherapeutische Praxis betrete oder verlasse.
Mein Ziel wäre es, ein Level zu erreichen, wie ich es auch beim Alkoholkonsum lebe. Ich trinke sehr wenig Alkohol, und wenn ich trinke, dann ein gutes Glas Wein oder Whisky. Eine solche Teilabstinenz würde ich auch für den Konsum von Pornografie anstreben.
TK: Haben Sie eigene Strategien, mit denen Sie versuchen, von der Sucht loszukommen?
Baumeister: Ich bin ein aktiver und neugieriger Mensch. Das sind gute Voraussetzungen, um mein Leben selbstbestimmt gestalten zu können. Es gibt sicherlich viele Dinge in meinem Leben, die ich nicht verändern kann, aber bei der PNS gibt es Stellschrauben, an denen ich aktiv werden kann.
Hintergrund:
In Deutschland dürften ca. eine Million Menschen an einer Pornografie-Nutzungsstörung (PNS) erkrankt sein. Weitere Informationen zum PornLoS-Projekt gibt es auf der Projektseite. Menschen, die pornografisches Material nutzen und sich fragen, ob ihr Konsum kritisch ist, können dort einen anonymen Selbsttest durchführen. Er hilft, das eigene Nutzungsverhalten besser einzuschätzen. Am PornLoS-Projekt können Versicherte aller gesetzlichen Krankenkassen in Hessen, Rheinland-Pfalz und im Saarland teilnehmen und sich auf der Projektseite direkt zur Teilnahme anmelden.
Weitere Informationen zum Projekt: