"Es fehlt an der frühen Diagnosestellung und an der Vernetzung der Behandlungsangebote."
Interview aus Saarland
Im Interview: Dr. David Steffen, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und ärztlicher Leiter der ambulanten Suchtrehabilitationseinrichtung Ianua G. P. S. mbH. in Saarlouis.
TK : Herr Dr. Steffen, was sind grundsätzlich die Probleme bei der Versorgung von Abhängigkeitserkrankungen?
Dr. David Steffen: Es ist gar nicht so, dass uns die entsprechenden qualitativ guten Behandlungsangebote fehlen. Es fehlt an der frühen Diagnosestellung und an der Vernetzung der Behandlungsangebote. Durchschnittlich erfolgt eine erste suchtspezifische Behandlung nach einer Abhängigkeitsdauer von ca. 10 Jahren, in allen anderen somatischen Fachrichtungen ein unhaltbarer Zustand.
Nach der Diagnosestellung einer Abhängigkeitserkrankung erfolgt meist eine jahrelange Odyssee aus Entgiftungen, Suchtberatungen und Rückfällen, bis eine entsprechend langfristige Behandlung (d. h. Suchtrehabilitation) beginnt. Häufig sind nach einer stationären Entgiftung bis zur Aufnahme in eine Rehabilitationsmaßnahme Wartezeiten von acht bis zwölf Wochen die Regel.
Wir wissen, dass nicht einmal zehn Prozent der Alkoholabhängigen nach einer stationären Entgiftung eine Suchtrehabilitation antreten (Antrittsquote ca. 65 Prozent) und je nach Studie lediglich zwischen 10 und 35 Prozent ein Jahr später noch abstinent leben.
Aber auch nach einer durchgeführten Suchtrehabilitation ist die Weiterbehandlung durch zum Beispiel fehlende psychotherapeutische Behandlungsangebote gefährdet oder eine Suchtnachsorge reicht nicht aus, um die noch brüchige Abstinenz nach einer stationären Entwöhnung zu sichern.
Zusammenfassend spreche ich mit meinen Patienten darüber, dass unser Suchthilfesystem wie ein Teich ist, über den sie "trocken" kommen müssen. Nur dass sie vorher nicht wissen, welche Steine Halt geben, sich als instabil herausstellen oder teilweise selbst für olympiareife Weitspringer unerreichbar bleiben. Wir bieten ihnen mit unserem Programm einen sicheren und "trockenen" Weg über diesen Teich.
TK: Was sind die Besonderheiten Ihres ambulanten Behandlungskonzeptes?
Dr. Steffen: Unser Konzept bietet eine sogenannte qualifizierte Entzugsbehandlung im ambulanten Rahmen an, d. h. die Betroffenen müssen nicht stationär aufgenommen werden und erhalten neben der körperlichen Entgiftung eine differenzierte psychiatrische Abklärung und Behandlung sowie bereits zu Beginn eine psychotherapeutische Begleitung in Einzel- und Gruppengesprächen.
Durch die Vernetzung zwischen dem Haus- und Facharzt sowie der Rehabilitationseinrichtung kann die Behandlung in der Regel innerhalb weniger Tage begonnen werden und es entstehen anschließend keine Wartezeiten. Die Standortbestimmung, Klärung und Motivationsarbeit gerade zur Weiterbehandlung sind in der noch frischen Abstinenz immens wichtig. Neben dem Managen von körperlichen und Suchtfolgeerkrankungen sowie von komorbiden psychischen Störungen unterstützen wir den Betroffenen auch in der Antragstellung zur Suchtrehabilitation.
Dies führt dazu, dass mindestens jeder zweite Betroffene (> 50 Prozent) nicht nur eine Suchtrehabilitation beantragt, sondern diese auch antritt (Antrittsquote 98 Prozent). Wir begleiten den Patienten nahtlos bis zum Antritt seiner Rehabilitationsbehandlung (ambulant, stationär oder kombiniert ambulant-stationär).
Damit können wir die Chance auf eine erfolgreiche und langfristige Abstinenz im Vergleich zur stationären Regelversorgung verfünffachen. Auf Vorteile der stationären Behandlung wie eine 24h-Erreichbarkeit des Arztes müssen die Patienten dabei nicht verzichten.
TK: Für welche Patienten ist das Konzept geeignet und für welche weniger?
Dr. Steffen: Prinzipiell können die meisten Suchtkranken an unserem Programm teilnehmen. Sie sollten uns auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln in zumutbarer Zeit erreichen können, müssen aktiv mitarbeiten und sollten einen festen Wohnsitz haben. Gerade noch nicht stabil motivierte Betroffene profitieren ebenso deutlich wie solche, die bereits die Rehabilitation als Ziel vor Augen haben.
Schwieriger wird es, wenn Betroffene kein suchtmittelfreies Umfeld haben, z. B. alle Freunde/Bezugspersonen/ Familienangehörige und Nachbarn ebenfalls süchtig konsumieren und sie dem Suchtmittel nicht aus dem Weg gehen können.
Wenn in der Vergangenheit bereits ein Alkoholentzugskrampfanfall oder ein Delir mit Halluzinationen und Wahnvorstellungen aufgetreten ist oder eine akute Erkrankung vorliegt, die stationär behandelt werden muss, sollte auch die Entzugsbehandlung besser stationär erfolgen.
TK: Auf welchen Wegen gelangen Patienten zu Ihnen in die Behandlung?
Dr. Steffen: Die Zugangswege sind vielfältig, häufig werden Betroffene durch den Haus-/Betriebsarzt, Kliniken, Angehörige oder Freunde und Selbsthilfegruppen vermittelt. Gerade das Internet bekommt eine immer größere Bedeutung, da sich Betroffene erst einmal anonym informieren und dann im zweiten Schritt einen Termin ausmachen können. Aber gerade der Weg über den Haus- oder Betriebsarzt geht besonders schnell, da hier die Schnittstellen optimiert sind und ein Erstkontakt häufig innerhalb von wenigen Tagen erfolgen kann.
Betroffenen kann ich nur raten, aktiv bei ihrem Hausarzt oder auch der Krankenkasse nach entsprechenden Behandlungsstellen zu fragen. Angst vor Stigmatisierung muss bei uns niemand haben, ganz im Gegenteil, wir können professionelle und schnelle Hilfe vermitteln.
TK: Welche Erfahrungen haben Sie bis jetzt mit Ihrem Verfahren gemacht?
Dr. Steffen: Die Erfahrungen sind überaus positiv. Wissenschaftlich betrachtet können wir exzellente Zahlen bzgl. Vermittlung in Reha (> 50 Prozent), Antritt der Reha (98 Prozent) und Abstinenz nach einem Jahr (> 50 Prozent) vorweisen und dabei noch 20 Prozent der gesamten Krankenkassenkosten in den nächsten zwei Jahren einsparen. Aber viel wichtiger ist der persönliche Vorteil für die Betroffenen.
Wir beenden mit ihnen den Teufelskreis aus oft jahrelangen Drehtürentgiftungen, drohendem Arbeitsplatzverlust, gefährdeten oder scheiternden persönlichen Beziehungen, Frust und Rückschlägen und vermeiden eine Verschlimmerung von Folgeerkrankungen. Sie lernen, wieder zufrieden und abstinent zu leben und das Suchtmittel nach einiger Zeit nicht mehr zu vermissen und zu brauchen.
TK: Herzlichen Dank für das Interview!
Zur Person:
Dr. med. David Steffen studierte und promovierte an der Medizinischen Fakultät der Universität des Saarlandes. Seine Facharztausbildung absolvierte er an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums des Saarlandes sowie der Klinik für Neurologie des Klinikums Saarbrücken.
Seit 2004 ist er als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in eigener Praxis in Saarlouis als niedergelassener Psychiater und ärztlicher Psychotherapeut tätig. Zeitgleich übernahm er die ärztliche Leitung der ambulanten Suchtrehabilitationseinrichtung Ianua G. P. S. mbH in Saarlouis.
Herr Dr. Steffen leitet die Arbeitsgruppe "S3-Leitlinientransfer" der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie e. V. und wurde 2014 für die Arbeit "Integrierte Versorgung Abhängigkeitskranker: Effekte einer qualifizierten ambulanten Entzugsbehandlung" mit dem Wolfram-Keup-Förderpreis ausgezeichnet.