Digitale Therapie gegen Angststörungen
Interview aus Schleswig-Holstein
Das neue Programm Invirto macht die Therapie bei Angststörungen mittels Virtual Reality möglich. Im Interview sprechen die Experten Dr. Bartosz Zurowski und Christian Angern über die neue Therapiemöglichkeit.
Die TK bietet als erste Krankenkasse eine digitale Therapie gegen Angststörungen an. Das vom Hamburger Start-up "Sympatient" entwickelte Programm "Invirto" wird in Zusammenarbeit mit dem Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH) in Kiel und Lübeck durchgeführt. Die Therapie ermöglicht mit Virtual Reality (VR) und einer App erstmalig eine leitliniengerechte Fernbehandlung von Angststörungen. Dabei können die Patientinnen und Patienten innerhalb von vier Wochen eine App-gestützte Therapie mit zahlreichen Schulungsvideos und digital angeleiteten Übungen absolvieren.
Wir haben Christian Angern, Gründer und Geschäftsführer des Start-ups Sympatient, und Dr. Bartosz Zurowski, im Interview gefragt, was die wichtigsten Elemente der digitalen Psychotherapie sind und welche Vorteile diese innovative Therapie bei Angststörungen gegenüber der klassischen Therapieform hat.
TK: Was war der auslösende Moment, um die digitale Therapie gegen Angststörungen zu entwickeln und welche Schritte mussten Sie bis zur Umsetzung gehen?
Christian Angern: Nachdem mein Bruder Julian erste positive Studienergebnisse beim Einsatz von Virtual Reality Systemen in der Konfrontation erzielen konnte, wussten wir, dass wir VR für alle Patienten verfügbar machen müssen. Vor allem der Einsatz von mobiler VR-Technologie, die mit dem Smartphone der Patienten funktioniert, war ein großer Durchbruch. So kann VR flächendeckend und bei Patienten zu Hause eingesetzt werden. Damit lösen wir echte Versorgungsprobleme.
Die nächsten Schritte waren dann die Konzeption eines hochqualitativen therapeutischen Konzepts um die Technologie herum, das Erreichen der CE-Zertifizierung als Medizinprodukt und der Abschluss des Versorgungsvertrages mit der TK.
TK: Welche Formen von Angststörungen stehen bei Invirto im Fokus und wie äußern sich diese?
Dr. Bartosz Zurowski: Es sind die häufigsten und am meisten belastenden Angststörungen: Erstens Agoraphobie (=Angst vor und/oder Vermeidung von bestimmten Situationen und Orten), zweitens Panikstörung, die gekennzeichnet ist durch plötzliche sehr heftige Angstattacken und drittens als häufigste die soziale Angststörung bzw. soziale Phobie. Hierbei fürchten sich Betroffene vor der Begegnung mit Menschen, verbunden mit der Befürchtung sich lächerlich zu machen, sich peinlich zu verhalten und abgewertet zu werden. Besonders schwierig und daher systematisch vermieden werden Situationen, in denen man im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit ist wie z.B. Vorträge, Auftritte aber selbst an der Supermarktkasse stehen diese Menschen vor einer Herausforderung, sofern sie das Einkaufen nicht ohnehin vermeiden.
TK: Was sind die wichtigsten Elemente der digitalen Psychotherapie mit der App Invirto?
Angern: Bei Invirto bieten wir den therapeutischen Behandlungsstandard der kognitiven Verhaltenstherapie mit Expositionsübungen an. Neben einer umfassenden Aufklärung der Patientinnen und Patienten durch Therapeutinnen und Therapeuten über deren Angststörung und dem Aufzeigen hilfreicher Strategien für den Umgang mit der Angst ermöglichen wir mit den Expositionsübungen in VR eine neue Erfahrung mit der Angst. Patientinnen und Patienten lernen wieder mit Angstsituationen umzugehen, die vorher im Alltag nicht möglich waren, wie zum Beispiel die Fahrt mit dem Bus oder den Besuch des Supermarkts. Während der gesamten Therapie werden die Betroffenen dabei von approbierten Psychotherapeutinnen und -therapeuten begleitet.
TK: Welche Vorteile hat die digitale Therapie bei Angststörungen gegenüber der klassischen Therapieform?
Zurowski: Viele Betroffene lassen sich auf eine sehr erfolgreiche aber zweifelsohne auch belastende Behandlung mit Expositionen also gezielter Konfrontation mit angstauslösenden Situationen nicht ein. Andere brechen diese ab. Konfrontationsübungen in virtueller Realität sind erwiesenermaßen gleichwertig in der Wirksamkeit jedoch niederschwelliger für die Betroffenen.
Auch wird die Behandlung seltener abgebrochen. Das größere Problem ist jedoch die zeit- und ortsnahe Verfügbarkeit spezifischer Therapien für Angststörungen. Bei sehr hohem Leidensdruck dieser Betroffenen ist die Aussicht auf einen Therapiebeginn in 6-9 Monaten verständlicherweise frustrierend. Bis dahin ist der gesamte Zyklus der digitalen Therapie längst abgeschlossen. Im schlechtesten Fall ist der Patient oder die Patientin schon gut vorinformiert und kommt in der anschließenden Therapie schneller voran, im besten Fall braucht er diese vielleicht gar nicht mehr da Angststörungen vergleichsweise gut und schnell behandelbare Erkrankungen sind.
TK: Welches Potenzial sehen Sie generell im Einsatz digitaler Therapieformen in der Psychotherapie und wo sehen Sie Grenzen?
Angern: In der Versorgung bleiben viele psychische Erkrankungen unbehandelt. Neben dem häufig genannten Kapazitätsmangel an Therapeutinnen und Therapeuten ist es aber vor allem wichtig zu beachten, dass viele Patientinnen und Patienten selbst mit ihren Erkrankungen umgehen wollen. Digitale Psychotherapie bietet eine fantastische, evidenzbasierte Unterstützung in der therapeutischen Arbeit und eine Behandlung mit neuen Therapieformen, um auch unversorgte Patientinnen und Patienten zu erreichen. Betonen möchte ich, dass die Therapie von ausgebildetem medizinischem Fachpersonal begleitet wird.
Zurowski: Herr Angern spricht einen zentralen Motor der Veränderung im Rahmen jeglicher Psychotherapie an: das Erleben von Selbstwirksamkeit. Im Vergleich zu medikamentöser Behandlung aber auch zu einer intensiv begleiteten Psychotherapie fällt es den Betroffenen oft leichter, die positive Veränderung im Rahmen einer digital gestützten Psychotherapie sich selbst zuzuschreiben. Das ist im Hinblick auf den Umgang mit zukünftigen Herausforderungen oder Rückschlägen immens wichtig.
Der Einsatz digitaler Therapieformen ist begleitend zu einer face-to-face Therapie denkbar, insbesondere frühzeitig bei leichteren Formen als alleinige Intervention um einer Chronifizierung der Angststörung vorzubeugen. Als ‚booster‘ vor Beginn einer klassischen Therapie eignen sich digitale Tools ebenso wie zur Rückfallprophylaxe und Auffrischung.
Schwere Erkrankungsformen oder das Vorhandensein relevanter Begleiterkrankungen, nicht zuletzt aber die klare Präferenz einer face-to-face Behandlung durch die Patientinnen und Patienten markieren die Grenzen des Einsatzes. Weitere Einschränkungen werden sich zukünftig herauskristallisieren, wenn wir mehr Erfahrungen mit digitalen Therapien gesammelt haben.
Zur Person Dr. Bartosz Zurowski
Dr. med. Bartosz Zurowski leitet am Zentrum für Integrative Psychiatrie des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein den Bereich Angst- und Zwangsstörungen sowie affektive Störungen am Campus Lübeck. Er ist seit 2009 Facharzt für Psychiatrie und Oberarzt, zuvor war er seit 2004 an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Lübeck sowie am Institut für Systemische Neurowissenschaften des UKE in Hamburg tätig. BZ studierte Medizin und Philosophie in Mainz und Berlin und promovierte 2004 nach einem Forschungsaufenthalt an der Universität Ulm zum Thema "Neuronale Korrelate von visuoräumlichen und verbal-phonologischen Arbeitsgedächtnisprozessen
im menschlichen Gehirn“.
Blogbeitrag: VR-Therapie bei Angststörungen
Zur Person Christian Angern
Christian Angern ist Gründer und Geschäftsführer von Sympatient. Der studierte Wirtschaftswissenschaftler verantwortet neben der Geschäftsführung den Markteintritt ins Gesundheitswesen und die Kooperationen mit Kliniken und Krankenkassen. Das 2017 aus einer klinischen Pilotstudie am UKSH heraus gegründete Unternehmen Sympatient hat seinen Sitz in Hamburg. Das 9-köpfige Team wird finanziell von der Hansestadt Hamburg gefördert und wurde im September 2019 mit dem Hamburger Gründerpreis ausgezeichnet. Gründer sind Christian Angern, Julian Angern und Benedikt Reinke.
Invirto ist die weltweit erste digitale Psychotherapie gegen Angststörungen für Zuhause. Dafür hat Sympatient acht Stunden Schulungsmaterial und fast vier Stunden VR-Bildmaterial für sieben verschiedene Angstszenen erstellt. Damit bilden sie die häufigsten angstauslösenden Situationen ab.