Erfolgreich gegen Mobbing - TK-Präventionsprogramm "Gemeinsam Klasse sein" hat sich bewährt
Interview aus Bremen
Meike Herminghausen vom Landesinstitut für Schule in Bremen erklärt im Interview, was die Online-Plattform "Gemeinsam Klasse sein" ausmacht und welchen Einfluss sie auf den Schulalltag hat.
Das Institut für Therapie- und Gesundheitsforschung (IFT-Nord) hat jüngst einen Evaluationsbericht zum Präventionsprojekt "Gemeinsam Klasse sein" veröffentlicht. 32 Schulklassen aus fünf Bundesländern wurden jeweils vor und nach der Durchführung von "Gemeinsam Klasse sein" zu ihren Erfahrungen und ihrem Umgang mit dem Thema (Cyber-)Mobbing befragt. Das Ergebnis zeigt, dass sowohl Schülerinnen und Schüler, als auch Lehrkräfte ihr Know-how zum Thema Mobbing deutlich ausbauen konnten. Anlässlich der Veröffentlichung wollten wir von Meike Herminghausen, Referentin für Soziales Lernen am Bremer Landesinstitut für Schule (LIS) wissen, welche praktischen Erfahrungen an Schulen in Bremen und Bremerhaven mit der Online-Plattform gemacht wurden.
TK: Frau Herminghausen, worum dreht sich das Programm "Gemeinsam Klasse sein" genau? Was macht das Konzept so besonders bzw. so erfolgreich aus Ihrer Sicht?
Meike Herminghausen: "Gemeinsam Klasse sein" ist eine Projektwoche zur Mobbingprävention (nicht Intervention!), die von der Beratungsstelle Gewaltprävention der Hamburger Bildungsbehörde in Zusammenarbeit mit der Techniker Krankenkasse entwickelt wurde. Im Schuljahr 2018/19 wurde das Material mit mehreren Pilotschulen in Hamburg, Schleswig-Holstein und Bremen erprobt, und ein Jahr darauf wurde es bundesweit zur Umsetzung zur Verfügung gestellt. In Bremen empfehlen wir das Material vom LIS für Jahrgang fünf oder sechs. Jahrgang sieben kann aber auch teilnehmen. Gedacht ist es in erster Linie für den Einsatz in Lerngruppen, die neu zusammengesetzt wurden und bereits einige gemeinsame Erfahrungen gemacht haben - also in Bremen im Idealfall Jahrgang fünf nach den Herbstferien - aber die Durchführung ist auch später noch machbar und sinnvoll.
Im Zentrum des Materials steht ein Film, der einen beginnenden Mobbingfall in einer Klasse zeigt. Die Handlungen sind sehr subtil, Blicke und Gesten spielen eine große Rolle, Außenstehenden, die nicht durch die Augen der Kamera blicken, würde vermutlich gar nichts auffallen. Viele Kinder kennen solche oder ähnliche Situationen, die zunächst harmlos wirken, aber dennoch für das betroffene Kind sehr belastend sein können, dadurch entsteht eine starke Identifikation. Im Film steigern sich die subtilen Handlungen und führen zu eindeutigem Mobbing. Ausgehend von der Filmgeschichte dreht es sich an den ersten beiden Tagen darum, was Mobbing eigentlich ist, welche Rollen dabei wirksam sind und wie man Mobbing entgegenwirken kann. Die zentrale Aussage ist hierbei, dass es bei Mobbing keine Unbeteiligten gibt - das betrifft auch die Lehrkraft. Ein Schwerpunkt wird auf die Handlungsspielräume der sogenannten Zuschauenden gelegt, denn das sind diejenigen, die am ehesten etwas an der Situation verändern können. Am dritten Tag liegt der Fokus auf den Besonderheiten von Mobbing durch soziale Medien, am vierten geht es um einen konstruktiven Umgang mit Konflikten und zukünftige Vorhaben der einzelnen Kinder und der Klasse insgesamt. Für den fünften Tag ist die Vorbereitung einer Präsentation für die Eltern vorgesehen, die als wichtige Akteure am Nachmittag eingeladen sind. Hierin zeigt sich auch der sehr sinnvolle Mehrebenenansatz des Programms: Die Kinder sind nicht nur Lernende, sondern sie vermitteln ihr erworbenes Wissen weiter an die Eltern und darüber hinaus an andere Lehrkräfte der Schule, die nicht am Projekt beteiligt waren.
Das Material ist sehr ansprechend gestaltet und mit vielen Methodenwechseln für die Kinder sehr abwechslungsreich. Es ist fachlich fundiert und durch die sehr ausführlichen Erläuterungen leicht umsetzbar. Dadurch, dass das Material online zur Verfügung gestellt wird, kann es auch bei Bedarf aktualisiert werden - was aktuell für den Tag zu Cybermobbing geschieht.
Für mich persönlich ist außerdem sehr erfreulich, dass der Autor, Kaj Buchhofer, den regelmäßigen bundesweiten Austausch zu "Gemeinsam Klasse sein" initiiert hat und am Laufen hält. Dort werden neben dem Einblick in neue Entwicklungen beim Programm unter den Anbietenden wertvolle Erfahrungen bei der Umsetzung ausgetauscht.
TK: Was waren die Beweggründe für das LIS eine solche Kooperation mit der TK einzugehen?
Herminghausen: Vom LIS aus gab es schon langjährige sehr gute Erfahrungen mit der Kooperation zum Vorgänger-Programm, dem Anti-Mobbing-Koffer. Dazu hat das LIS viele zentrale und schulinterne Fortbildungen angeboten und ein großer Teil der Bremer weiterführenden Schulen haben ihn umgesetzt. Inzwischen war das Material etwas in die Jahre gekommen - vor allem wegen der Entwicklungen im Bereich der digitalen Medien - auch wenn es später ein Zusatzmaterial gab. Aufgrund der Unterstützung durch die Techniker Krankenkasse Bremen konnten wir schon damals und nun auch bei "Gemeinsam Klasse sein" schulinterne Fortbildungen in größerem Umfang anbieten - dies auch dank der Tatsache, dass wir in einem Stadtstaat sind. Wir bereiten Jahrgangsteams direkt auf den konkreten Einsatz des Materials in ihrer Projektwoche vor und besprechen auch gemeinsam die Anpassung an die konkrete Situation in der Schule - zum Beispiel an die Anzahl der Stunden am Projekttag. Diese gemeinsame Vorbereitung ist besonders effektiv und die Zufriedenheit der Teilnehmenden ist hoch. Im Idealfall geben die Jahrgänge ihre Erfahrung und ihr Wissen im Folgejahr an das nächste Jahrgangsteam weiter - aber wir können auch nochmal wieder kommen und unterstützen.
Das Programm zielt darauf, dass Schulen es nicht nur einmalig, sondern regelmäßig durchführen.
Das Programm zielt darauf, dass Schulen es nicht nur einmalig sondern regelmäßig durchführen. Wenn es im Curriculum verankert ist, haben die Inhalte spätestens nach einigen Jahren alle Menschen in Schule erreicht. Mit dem fundierten Wissen um die Dynamik bei Mobbing und um geeignete Handlungsmöglichkeiten, es zu beenden oder besser noch gar nicht entstehen zu lassen, kann sich eine Kultur des Hinschauens und Handelns in der ganzen Schule etablieren. Weil es sich bei Mobbing um ein systemisches Phänomen handelt, ist dies besonders sinnvoll und hat nachhaltige Effekte.
Schulen bewerben sich um die Teilnahme am Programm und erklären ihre Absicht, es zukünftig regelmäßig in den Jahrgängen durchzuführen.
TK: Was motiviert einzelne Schulklassen bzw. deren Lehrkräfte an dem Programm teilzunehmen?
Herminghausen: Wie eben schon erwähnt, sollen es ja gar nicht die einzelnen Klassen sein, sondern ganze Jahrgänge und in der Folge die ganze Schule. Aber häufig geht die Initiative von einzelnen Lehrkräften aus. Die Motive können unterschiedlich sein. Im Idealfall ist der Motor ein Wissen darum, dass Mobbing in allen Gruppen vorkommen kann und es klug ist, dem präventiv entgegenzuwirken. Deshalb zielt das Programm auch in erster Linie auf neu zusammengesetzte Gruppen, die ihr Zusammensein gemeinsam gestalten wollen und noch am Anfang stehen. Schule ist ein gemeinsamer Lern- und Lebensraum, und ein gutes Klassenklima ist die beste Voraussetzung dafür, dass in Schule gut gelernt werden kann. Dafür ist der Titel "Gemeinsam Klasse sein" sehr gut gewählt, denn genau darauf zielt das Programm.
Schule ist ein gemeinsamer Lern- und Lebensraum, und ein gutes Klassenklima ist die beste Voraussetzung dafür, dass in Schule gut gelernt werden kann.
Manchmal fragen uns Schulen aus Not heraus an, weil akute Mobbingfälle sichtbar geworden sind. Dann empfehlen wir zuerst eine Intervention. Viele Schulsozialarbeiterinnen und -arbeiter sind darin ausgebildet, und wir bieten am LIS regelmäßig Fortbildungen dazu an. Auch das ReBUZ und Fachberatungsstellen können unterstützen. Wenn dies geschehen ist, kann das Programm, das ja präventiv ansetzt, gewissermaßen als Nachsorge genutzt werden - nach dem Motto "nach dem Spiel ist vor dem Spiel", wobei Spiel als Begriff allerdings nicht passt.
Mobbing ist nachgewiesen ein großes Problem in Schulen - und natürlich nicht nur dort. Wichtig ist es, rechtzeitig gegenzusteuern. Je früher, desto leichter lässt es sich auflösen. Vielen Lehrkräften ist dies zum Glück bewusst und sie engagieren sich präventiv.
TK: Welcher Kompetenzzuwachs lässt sich bei den Schülerinnen und Schülern nach der Teilnahme ausmachen?
Herminghausen: Die bundesweite Evaluation zu "Gemeinsam Klasse sein" hat gezeigt, dass die Kinder einen deutlichen Wissenszuwachs haben darüber, was man eigentlich als Mobbing bezeichnet, welche Rollen es gibt, welche Dynamiken wirken und vor allem, welche Handlungsmöglichkeiten sie haben. Viel Wissenszuwachs wurde auch beim Schutz vor Cybermobbing erkennbar.
Die Ergebnisse lassen auch hoffen, dass Kinder durch das Programm Mut bekommen, sich für Betroffene einzusetzen. Viele gaben an, dass sie Mobbing eher bemerken und einschreiten bzw. sich Hilfe holen würden. Die Lehrkräfte und Schulsozialarbeiterinnen und -arbeiter wurden als Ansprechpersonen wahrgenommen.
Viele Kinder und Lehrkräfte meinen, dass sich das Klassenklima durch das Programm verbessert habe. Das ist ein sehr schönes Ergebnis.
Viele Kinder und Lehrkräfte meinen, dass sich das Klassenklima durch das Programm verbessert habe. Das ist ein sehr schönes Ergebnis.
TK: Was nehmen die Lehrerinnen und Lehrer aus dem Programm mit?
Herminghausen: Noch wichtiger als der Wissenszuwachs bei den Kindern ist unserer Ansicht nach der bei den Erwachsenen, weil sie diejenigen sind, die die Verantwortung für die Gestaltung des Miteinanders in der Klasse haben. Sie sind Vorbilder durch ihr eigenes Verhalten und prägen das Klima in Klasse und Schule maßgeblich. Sie geben den Rahmen dafür, was erlaubt ist und wie auf Grenzüberschreitungen reagiert wird. Dies ist eine große Verantwortung und wird angesichts von Personalmangel und zunehmendem Stress aller Menschen in Schule nicht einfacher. Umso besser, wenn Lehrkräfte für das Thema Mobbing sensibilisiert sind und wissen, was sie tun können. Mut macht die Forschung, die zeigt, dass Pädagog:innen wirksam sind, wenn sie bei Mobbing handeln - dies war auch die Kernbotschaft des Eingangsvortrags von Dr. Sebastian Wachs von der Universität Münster beim Fachtag gegen Mobbing im letzten Herbst, den Techniker Krankenkasse Bremen und LIS gemeinsam realisiert haben.
"Gemeinsam Klasse sein" vermittelt den Lehrkräften ganz nebenbei dasselbe Wissen um die Merkmale und Dynamiken von Mobbing wie auch den Kindern, ebenso die Besonderheiten von Cybermobbing. Diesen Wissenszuwachs dokumentiert auch die Evaluation. Die Erwachsenen können dadurch auch die entsprechende Sensibilität entwickeln, die notwendig ist, um Mobbing zu erkennen, weil es oftmals versteckt abläuft.
Wichtig ist auch das Wissen um die Unterschiede zwischen Mobbing und Konflikt, die in einem Materialbaustein herausgearbeitet werden. Der Begriff "Mobbing" wird vielfach verwendet für alle möglichen Formen von Konflikten. Die Unterscheidung ist aber für die Pädagoginnen und Pädagogen sehr wichtig, weil die Interventionsmaßnahmen andere sind und die Betroffenen einen ganz anderen Schutz benötigen als bei einem Konflikt zwischen Gleichrangigen.
Das Programm gibt zusätzlich zum Unterrichtsmaterial Hinweise darauf, was zur Intervention notwendig ist: Z.B. dass es sinnvoll ist, in Schulen Handlungsketten für Mobbingfälle zu entwickeln, die allen Erwachsenen bekannt sind und die die verschiedenen Professionen einbinden - insbesondere die Schulsozialarbeit. Es werden Interventionsmaßnahmen aufgelistet und die wichtige Botschaft vermittelt, dass man Mobbingfälle nicht allein bearbeiten soll. Wie oben bereits erwähnt, bieten wir am LIS jedes Jahr Fortbildung zur Mobbingintervention an, und viele Schulsozialarbeiterinnen und -arbeiter sind firm darin. In Bremen hat sich schon vor Jahren ein Arbeitskreis zum Thema Mobbing gebildet, in dem sich alle Fachberatungsstellen und viele Kolleginnen und Kollegen aus der Schulsozialarbeit austauschen. Im Flyer des AK sind alle Stellen aufgelistet, an die man sich wenden kann, um weitere Unterstützung zu finden.
TK: Lässt sich der, in der Auswertung beschriebene, positive Effekt auf das Klassenklima durch die Teilnahme an "Gemeinsam Klasse sein" auch an Schulen bei uns im Land feststellen?
Im Idealfall hat eine Schule ein Curriculum zum Sozialen Lernen mit einem Kollegium, das dies aus Überzeugung trägt und ausreichend Ressourcen bekommt, dies nicht nur im Rahmen von Projekten sondern auch im Alltag umzusetzen.
Herminghausen: Die Evaluation hat in Bremen nicht stattgefunden, weil pro Bundesland ursprünglich fünf Schulen gesucht wurden, die das Programm noch nicht kannten und bereit zur Einführung waren. In Bremen nehmen erfreulicherweise schon mehr als die Hälfte der weiterführenden Schulen teil, so dass wir nicht davon ausgingen, die Kriterien erfüllen zu können. Deshalb gibt es keine gesicherten Daten, aber ich kann aus persönlichen Gesprächen etwas beisteuern. Zum Beispiel haben wir im Rahmen eines Interviews zur Aktion "Law4School", die über die rechtlichen Fragen von Cybermobbing aufklärt und an der die TK Bremen 2022 allen Bremer weiterführenden Schulen die Teilnahme ermöglicht hatte, eine siebte Klasse besucht, die zwei Jahre vorher "Gemeinsam Klasse sein" durchgeführt hatte. Dort konnten sich viele Kinder noch an Details aus der Projektwoche erinnern und es wurde bestätigt, dass das Programm die Klassengemeinschaft positiv verändert habe. Einige Kinder wussten noch die individuellen Verhaltensweisen, die sie sich vorgenommen hatten. In dieser Klasse waren allerdings die Lehrkräfte sehr aktiv bemüht um das Klassenklima, haben sich dafür viel Zeit genommen und haben sich in der Folge der Projektwoche immer wieder dezidiert auf Inhalte von "Gemeinsam Klasse sein" bezogen. Diesen Faktor bildet die Evaluation zwar nicht ab, aber grundsätzlich ist ein Programm natürlich dann besonders wirksam, wenn es keine einmalige Aktion bleibt, sondern sich Inhalte wiederholen und fortsetzen und die Kinder mit ihren neuen Erfahrungen daran anknüpfen können. Deshalb empfiehlt es sich, mit "Gemeinsam Klasse sein" zu beginnen und in den Folgejahren darauf aufbauend weitere Aspekte des sozialen Miteinanders in den Blick zu nehmen. Im Idealfall hat eine Schule dann ein Curriculum zum Sozialen Lernen mit einem Kollegium, das dies aus Überzeugung trägt und ausreichend Ressourcen bekommt, dies nicht nur im Rahmen von Projekten sondern auch im Alltag umzusetzen.
Hintergrund
Für die Evaluation zu dem Präventionsprojekt "Gemeinsam Klasse sein" hat das Institut für Therapie- und Gesundheitsforschung (IFT-Nord) von Juli 2021 bis Dezember 2023 insgesamt 1.804 Schülerinnen und Schüler der fünften Klasse an 32 Schulen in den Bundesländern Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Niedersachsen vor und nach der Durchführung von "Gemeinsam Klasse sein" zu ihren Erfahrungen mit Mobbing und dem Projekt befragt. Die Mehrheit der Evaluationsteilnehmer (34,1 Prozent) stammt aus Rheinland-Pfalz.
1.514 Schülerinnen nahmen an der ersten Befragung teil, in der es hauptsächlich um eigene Erfahrungen mit Mobbing und Cybermobbing ging. Auf diese Teilnehmenden bezieht sich der prozentuale Anteil der Schülerinnen und Schüler, die schon mal von Mobbing betroffen waren bzw. andere gemobbt haben. An der zweiten Befragung, nach der Durchführung von "Gemeinsam Klasse sein", ging es hauptsächlich um Wissenszuwachs und Lösungsstrategien im Umgang mit Mobbing und Cybermobbing.
An dieser Befragung nahmen 1.374 Schülerinnen und Schüler teil. Darüber hinaus erfolgten halbstrukturierte Interviews mit Projektverantwortlichen an den Schulen.
Der vollständige Abschlussbericht liegt auf dem Lebensweltenportal der TK. Dort gibt es auch weitere Informationen für interessierte Schulen zu "Gemeinsam Klasse sein" .