"Die Gesundheitsämter, die es vor der Pandemie gab, gibt es jetzt nicht mehr"
Interview aus Thüringen
Dr. Isabelle Oberbeck leitet das Gesundheitsamt in Weimar. Von ihr haben wir erfahren, welchen Aufgaben der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) nachkommt. Außerdem hat sie uns erzählt, welche Veränderungen sie für den ÖGD während der Pandemie erlebt hat und was sie unbedingt für nötig hält, um den ÖGD für die Zukunft zu stärken.
TK: Frau Dr. Oberbeck, auf welchem Weg kamen Sie nach Weimar ins Gesundheitsamt?
Dr. Isabelle Oberbeck: Ich war in Weimar arbeitsmedizinisch tätig, als mich der Bürgermeister Ende 2019 fragte, ob ich mir vorstellen könne, das Gesundheitsamt zu leiten. Ich bin erst einmal nach Hause und habe mir die genauen Aufgabenbereiche angeschaut. Aus meinen vorherigen Tätigkeiten wusste ich, was ich alles melden muss. Wie vielfältig die Aufgaben des Gesundheitsamtes darüber hinaus noch sind, hat mich doch sehr überrascht und gleichzeitig interessiert.
Ich habe mich sehr auf die Aufgabe gefreut und konnte gleichzeitig nicht vorhersehen, was mich mit der Pandemie erwarten würde.
TK: Was genau motiviert Sie für die Arbeit im Gesundheitsamt?
Dr. Oberbeck: Ich finde, dass der ÖGD für das Wohl der Bevölkerung extrem wichtig ist. Das hat sich auch in der Pandemie gezeigt. Trotzdem ist er bisher verglichen mit den anderen medizinischen Sektoren relativ unterentwickelt. Es gibt unglaublich viel zu tun. Diese Herausforderung allein reizt mich.
Wir haben jetzt eine mediale und politische Aufmerksamkeit bekommen, die noch nie dagewesen ist. Das gibt uns die Möglichkeit, Veränderungen voranzutreiben.
Dazu ist gekommen, dass uns die Covid-Pandemie im ÖGD eine riesige Chance gibt, die wir unbedingt nutzen müssen. Natürlich immer auch unter dem Aspekt, wieviel Leid die Pandemie für die Betroffenen gebracht hat und wie hoch die Arbeitsbelastung in den medizinischen Bereichen war. Wir haben jetzt eine mediale und politische Aufmerksamkeit bekommen, die noch nie dagewesen ist. Das gibt uns die Möglichkeit, Veränderungen voranzutreiben. Dazu zählt beispielsweise, dass die personelle Aufstellung unbedingt verbessert werden muss, was durch den Pakt ÖGD zumindest zum Teil schon gelungen ist.
TK: Welche Veränderung haben Sie durch den neuen Blick der Öffentlichkeit und der Politik auf den ÖGD persönlich erlebt?
Dr. Oberbeck: Diese unheimlich hohe mediale Aufmerksamkeit kannte ich vorher nicht. Ich war in zahlreichen Talkshows, zum Beispiel bei Maybrit Illner, und auch andere Medien haben um meine Einschätzung gebeten. So konnte ich zum einen der medizinischen Fachwelt unsere Tätigkeiten, die Bedürfnisse des ÖGD und auch die Probleme darlegen. Zum anderen konnte ich so die einzelnen Bürger mit einbinden und quasi auf der Wohnzimmercouch erreichen.
Wir sind damit auf offene Ohren gestoßen. Viele Kolleginnen und Kollegen im ÖGD haben vorher jahrelang versucht, Gehör zu finden und bekamen diese Möglichkeit nicht.
Das Ansehen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des ÖGD ist mit dem vor der Pandemie gar nicht vergleichbar.
Neben den politischen Errungenschaften - der Pakt ÖGD kommt sicher noch mehrfach zur Sprache - sind wir im persönlichen Kontakt mit den Menschen auf sehr große Hilfsbereitschaft gestoßen. Zugleich ist das Ansehen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des ÖGD mit dem vor der Pandemie gar nicht vergleichbar.
Eine sehr wertvolle Errungenschaft für das Gesundheitsamt in Weimar ist, dass wir jetzt Leitungen für all unsere unterschiedlichen Bereiche haben. Dadurch sind wir viel besser strukturiert und schlagkräftiger als vor der Pandemie.
TK: Was sind in normalen, also nicht-Pandemie-Zeiten, Ihre Arbeitsschwerpunkte? Womit verbringen Sie den größten Teil Ihrer Arbeitszeit?
Dr. Oberbeck: Ich bin die letzte Instanz bei Fragen in allen Bereichen des Gesundheitsamtes in Weimar. Das sind:
Der Amtsärztliche Dienst, zu dessen Aufgaben neben der gutachterlichen Tätigkeit zum Beispiel Drogentests ebenso gehören wie Leichenschauen oder die Beratung von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern.
Hygiene- und Infektionsschutz ist durch die Pandemie sehr bekannt geworden. Neben der Eindämmung gefährlicher Keime kümmern wir uns auch um nicht akut lebensbedrohliche Keime wie beispielsweise Krätze. Der Bereich beinhaltet die Trinkwasserprüfung ebenso wie die Begehung von Kitas und Pflegeeinrichtungen.
An den sozialpsychatrischen Dienst können sich alle Bürgerinnen und Bürger wenden, die psychische Probleme haben und zunächst keinen anderen Ansprechpartner haben.
Ein weiterer wichtiger Bereich ist Gesundheitsförderung und Selbsthilfe.
Der Kinder- und Jugendärztliche Dienst ist den meisten bekannt durch die Schuleingangsuntersuchungen.
Dann haben wir noch den Zahnärztlichen Dienst, der vor allem Gruppenprophylaxen in Kindereinrichtungen durchführt.
Ich persönlich bin besonders für organisatorische Dinge zuständig, unter anderem für den Auf- und Ausbau der verschiedenen Bereiche. Nach der Pandemie ist das sehr wichtig und gleichzeitig aufwändig. Denn die Gesundheitsämter, die es vor der Pandemie gab, gibt es jetzt nicht mehr.
Die Gesundheitsämter waren vor der Pandemie deutschlandweit so schlecht besetzt, dass viele der Pflichtaufgaben nicht erfüllt werden konnten.
TK: Wie meinen Sie das?
Dr. Oberbeck: Die Gesundheitsämter waren vor der Pandemie deutschlandweit so schlecht besetzt, dass viele der Pflichtaufgaben, die in Gesetzen und Verordnungen festgeschrieben sind, schlicht nicht erfüllt werden konnten. Davon sind uns während der Pandemie deutschlandweit viele Dinge auf die Füße gefallen. Dazu gehört zum Beispiel, dass es nicht ausreichend Hygieneberatung und -begehung in Pflegeeinrichtungen gegeben hat.
Wir haben jetzt die Möglichkeit, die verschiedenen Bereiche so aufzubauen, dass die Pflichtaufgaben, die man vorher gar nicht schaffen konnte, jetzt zumindest annähernd erfüllt werden. Dazu sind viele organisatorische Änderungen erforderlich.
TK: Sie haben den ÖGD-Pakt bereits angesprochen. Sowohl in die personelle Ausstattung als auch in die Digitalisierung des ÖGD hat der Bund damit seit 2020 erheblich investiert. Wie steht es in den Thüringer Gesundheitsämtern, besonders in Weimar, mittlerweile um beides?
Dr. Oberbeck: Der Pakt hat viel gebracht. Ich finde zwar immer noch nicht, dass wir üppig besetzt sind, aber es ist viel mehr möglich als vor der Pandemie.
Der Personalaufbau und das Halten des neu aufgebauten und sehr motivierten Personals müssen aus meiner Sicht unbedingt der Fokus sein. Es müssen auf der einen Seite neue Stellen in den Kommunen geschaffen werden und auf der anderen Seite muss unbedingt weiter daran gearbeitet werden, dass die Attraktivität des ÖGD steigt. Dafür ist unter anderem ein eigener Tarifvertrag für die im ÖDG tätigen Ärztinnen und Ärzte enorm wichtig.
TK: Und zum Stichwort Digitalisierung?
Dr. Oberbeck: Es ist gut, dass in dem Bereich viel passiert ist und angestoßen wurde. Das Weimarer Gesundheitsamt ist in vielen Gremien und AGs zur Digitalisierung des ÖGD beteiligt. Zur Wahrheit gehört allerdings, dass der Zeitaufwand dafür im Moment wirklich enorm ist. Wir wissen heute noch nicht, was wir durch diesen am Ende konkret verbessern, wie unser Alltag besser funktioniert.
Ich finde es immer etwas lustig, wenn es so dargestellt wird, als sei der höchste Digitalisierungsgrad der Gesundheitsämter vor der Pandemie das Faxgerät gewesen. Das stimmt nicht. Gleichzeitig könnte es sein, dass ein Faxgerät schnelle und pragmatische Abhilfe bei einem für mich viel drängenderen Problem geschafft hat oder schafft, und zwar beim Datenaustausch.
Für unsere tägliche Arbeit sind funktionierende digitale Schnittstellen unerlässlich.
Wir müssen schnell und sicher personalisierte Daten mit Gerichten oder mit Krankenhäusern und ambulant tätigen Kolleginnen und Kollegen austauschen können. Oft sind die Institutionen, mit denen wir zusammenarbeiten noch nicht an Austauschplattformen angebunden oder die End-zu-End-Verschlüsselung, die bei persönlichen Daten nötig ist, funktioniert bei unseren Partnern noch nicht. Das sind alltägliche Probleme, die unheimlich nerven und wertvolle Ressourcen kosten. Denn so etwas passiert natürlich immer in Situationen, in denen man gerade nicht so viel Zeit hat.
Ich weiß, es gibt viele Ideen dazu, wie man das lösen möchte. Allerdings brennt uns dieses Problem unter den Nägeln. Für unsere tägliche Arbeit sind funktionierende digitale Schnittstellen unerlässlich, in der öffentlichen Diskussion steht das nicht so sehr im Fokus.
TK: Was ist außer der personellen Ausstattung und den sicheren digitalen Datenaustauschmöglichkeiten noch wichtig, um den ÖGD voranzubringen?
Wir brauchen klare Strukturen und Aussagen unserer Aufsichtsbehörden, die dazu führen, dass wir Erfordernisse bei den kommunalen Vorgesetzten durchsetzen können.
Dr. Oberbeck: Wir brauchen klare Strukturen und Aussagen unserer Aufsichtsbehörden, die dazu führen, dass wir Erfordernisse bei den kommunalen Vorgesetzten durchsetzen können. Denn wir arbeiten in einem ständigen Spannungsfeld. Meine Vorgesetzen sind der Bürgermeister und der Oberbürgermeister, bei anderen sind es die Landräte. Unsere Aufsichtsbehörden sind Landesbehörden, also konkret das Landesverwaltungsamt.
Damit wir unsere Aufträge erfüllen können, benötigen wir vom Land klare Regelungen und Vorgaben. Formulierungen wie "wäre wünschenswert" oder "kann" sind nicht stark genug, um finanzielle Entscheidungen vor dem Stadtrat zu rechtfertigen.
Es braucht Durchgriffsrechte vom Land, die auch wahrgenommen werden. Dann könnte zum Beispiel die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Gesundheitsämtern auch besser werden. Der jetzige Flickenteppich ist definitiv nicht gut für die Wirksamkeit des ÖGD.
Es müssen Fragen geklärt werden wie: Welche Bereiche braucht ein Gesundheitsamt? Wie viele Stellen sind dafür konkret erforderlich? Gibt es im ÖGD eine ärztliche Rufbereitschaft oder nicht?
TK: Ein nötiges ÖGD-Gesetz ist in Thüringen schon seit Längerem Thema. Nun gibt es zwei Gesetzentwürfe. Wie bewerten Sie das?
Dr. Oberbeck: Es ist in jedem Fall wichtig, dass Thüringen endlich auch ein ÖGD-Gesetz bekommt. Das hat etwas mit Wertschätzung zu tun.
Darüber hinaus ist die Frage, wie dieses ÖGD-Gesetz am Ende ganz konkret aussieht. Wird nur die Verordnung übernommen oder werden Sachen weitergehend erarbeitet? Bekommt das Land Durchgriffsrechte, die es auch nutzt?
Der Landesverband des ÖGD, in dessen Vorstand ich bin, hat bereits angeboten, inhaltlich am Gesetz mitzuarbeiten.
Der Landesverband des ÖGD, in dessen Vorstand ich bin, hat bereits angeboten, inhaltlich am Gesetz mitzuarbeiten. Aus jedem der Bereiche, in denen wir tätig sind, gibt es Themen, die meines Erachtens in das ÖGD-Gesetz gehören. Wir haben in Thüringen viele Fachleute für die unterschiedlichsten Bereiche. Die Fachgruppenleiter sollten mit in die Diskussion hineingenommen werden.
TK: Was wünschen Sie sich für die Zukunft des ÖGD?
Dr. Oberbeck: Ich wünsche mir, dass der ÖDG als dritte Säule im Gesundheitswesen, weiter gestärkt wird. Dafür brauchen wir eine gute Vernetzung mit allen medizinischen Bereichen.
Zudem wünsche ich mir eine engere Zusammenarbeit der Gesundheitsämter untereinander.
Zudem wünsche ich mir eine engere Zusammenarbeit der Gesundheitsämter untereinander.
Durch all die Krisen, die sich der Pandemie lückenlos angeschlossen haben, besteht die Gefahr, dass die Belange des ÖGD wieder in den Hintergrund rücken. Ich finde, das geschieht schon jetzt auf allen Ebenen - kommunal, auf Landesebene und auch bundesweit. Wir haben allerdings nicht nur weiterhin Personalbedarf für die ohnehin verankerten Aufgaben, sondern durch die Krisen kommen auch auf den ÖGD neue Aufgaben hinzu.
Um den neuen, häufig jungen Kolleginnen und Kollegen eine Perspektive bieten zu können, brauchen wir die verbindliche Zusage, dass der Pakt ÖGD nach 2026 weitergeht. Und wir brauchen den angesprochenen Tarifvertrag.
Zur Person
Dr. Isabelle Oberbeck leitet seit Dezember 2019 das Gesundheitsamt in Weimar. Die Fachärztin für Allgemeinmedizin und für Arbeitsmedizin ist im Vorstand des Landesverbandes Thüringen der Ärzte und Zahnärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes e. V. tätig. Außerdem engagiert sie sich im Fachausschuss ÖGD der Landesärztekammer Thüringen.