Hausarzt- und Zahnarztpraxen vernetzen sich digital
Interview aus Baden-Württemberg
Interview mit Professor Dr. Dr. Stefan Listl vom Universitätsklinikum Heidelberg über das Projekt "DigIn2Perio", das die integrierte Versorgung von Diabetes und Parodontitis in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen zum Ziel hat.
TK: Herr Professor Listl, können Sie den Teufelskreis aus Parodontitis und Diabetes etwas näher beschreiben? Wie groß ist etwa die Schnittmenge aus beiden Erkrankungen in Relation zu den jeweiligen Einzelerkrankungen?
Prof. Dr. Dr. Stefan Listl: Aktuell haben in Deutschland mindestens 6,9 Millionen Menschen eine dokumentierte Typ-2 Diabetes Mellitus Erkrankung bei steigender Prävalenz. In der Bevölkerung steigt mit zunehmendem Alter und Multimorbidität auch die Prävalenz an Parodontitis. Laut 5. Deutscher Mundgesundheitsstudie weisen 65 Prozent der jüngeren Senioren eine schwere oder moderate Parodontitis auf. Die Kosten für die Versorgung von Typ-2 Diabetes und Zahnerkrankungen sind zudem erheblich.
Die Deutsche Diabetes Gesellschaft schätzt die Dunkelziffer der nicht diagnostizierten Menschen mit Diabetes in Deutschland auf ungefähr zwei Millionen. Bis zur ersten Diagnose leben Betroffene im Schnitt acht Jahre mit einem unentdeckten Diabetes. Auch bei Parodontitis gibt es eine Diskrepanz zwischen Versorgungsbedarf und wahrgenommener Versorgung. Derzeit leiden rund zehn Millionen Menschen in Deutschland an schwerer Parodontitis, aber es werden jährlich nur etwa eine Million Parodontitis-Behandlungen bei den gesetzlichen Krankenkassen abgerechnet. Diese Versorgungslücke ist bei Patientinnen und Patienten mit Typ-2 Diabetes und Parodontitis nicht nur ausgeprägter, sondern hat auch schwerwiegendere Folgen für die langfristige Gesundheit der Patientinnen und Patienten.
Die Parodontitis-Prävalenz ist bei Erkrankten mit Typ-2 Diabetes zwei- bis dreimal mal höher als in der Allgemeinbevölkerung.
Die Parodontitis-Prävalenz ist bei Erkrankten mit Typ-2 Diabetes zwei- bis dreimal mal höher als in der Allgemeinbevölkerung. Menschen mit Diabetes haben ein höheres Risiko für schnelleres Fortschreiten einer Parodontitis, was sich in häufigerem Zahnverlust manifestiert. Parodontale Behandlungserfolge können bei glykämisch schlecht eingestellten Menschen mit Diabetes ebenfalls schlechter aufrechterhalten werden.
Bei Patientinnen und Patienten mit Diabetes und parodontalem Handlungsbedarf reduziert eine Parodontalbehandlung den HbA1c-Wert nach einem Jahr um 0,6 Prozentpunkte. Trotz umfangreicher Evidenz für bidirektionale Zusammenhänge zwischen Typ-2 Diabetes, Parodontitis und reduzierter Diabetes-Behandlungskosten infolge systematischer Parodontitis-Therapie findet eine interdisziplinäre Versorgung an der Schnittstelle Human- und Zahnmedizin im deutschen Gesundheitswesen bislang nur sehr begrenzt statt.
TK: Warum wird die gefährliche Wechselwirkung zwischen Parodontitis und Diabetes bisher in der Versorgung relativ wenig beachtet?
Prof. Listl: Eine strukturelle Trennung der ambulanten allgemein- und zahnmedizinischen Versorgung gibt es nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen Ländern. Hierfür gibt es meines Erachtens eine Vielzahl von Gründen wie zum Beispiel die historisch unterschiedliche Entwicklung medizinischer und zahnmedizinischer Berufsgruppen, die weitgehend separat verlaufende Aus-, Weiter- und Fortbildung in der Human- und Zahnmedizin sowie eine mangelnde Integration von Vergütungssystemen.
Eine weitere erhebliche Implementierungshürde besteht zudem im limitierten Informationsaustausch zwischen den ambulanten Leistungserbringer:innen auf hausärztlicher und zahnärztlicher Seite. Eine Anpassung von jahrzehntelang gewachsenen Versorgungssystemen an sich verändernde Versorgungsbedarfe ist hochgradig komplex. Implementierungshürden zeigen sich nicht zuletzt auch für die Umsetzung der AWMF-S2k-Leitlinie Diabetes/Parodontitis. Bislang mangelt es an konkret umsetzbaren Versorgungskonzepten zur integrierten Versorgung von Typ-2 Diabetes und Parodontitis.
TK: 400 Praxen - Haus- und Zahnärzte - aus Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen sollen in das Projekt eingebunden werden. Wie können interessierte Praxen teilnehmen und welche Voraussetzungen müssen sie erfüllen?
Grundsätzlich können alle interessierten Haus- und Zahnarztpraxen aus Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen teilnehmen.
Prof. Listl: Grundsätzlich können alle interessierten Haus- und Zahnarztpraxen aus Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen teilnehmen, die regelmäßig GKV-Versicherte mit Typ-2 Diabetes oder Parodontitis versorgen und für die Studienteilnahme einwilligen. Die konkrete Rekrutierung von Studienpraxen kann erst nach Erhalt des erforderlichen positiven Ethikvotums erfolgen. Nach derzeitiger Planung soll Anfang des Jahres 2023 in Zusammenarbeit mit den kassenärztlichen und kassenzahnärztlichen Vereinigungen sowie mehreren Fachgesellschaften, Verbänden und bestehenden Praxisnetzwerken ein öffentlicher Aufruf an Haus- und Zahnarztpraxen in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen zur Teilnahme am Projekt erfolgen.
Die teilnehmenden Praxen werden vor Beginn der klinischen Studie entsprechend geschult. Für die neue Versorgungsform erfolgt im Rahmen der Studie eine zusätzliche Vergütung. Zudem erhalten die Praxen eine Aufwandsentschädigung. Das Vorhaben ist so konzipiert, dass bestehende Arbeitsabläufe nicht beeinträchtigt werden.
TK: Die Vernetzung soll auf digitaler Basis erfolgen. Wie sieht das konkret aus? Noch ist die ePA längst nicht in den Zahnarzt- und Hausarztpraxen etabliert.
Prof. Listl: Konkret sieht das so aus, dass zur Verbesserung des Informationsaustausches zwischen Haus- und Zahnarztpraxen möglichst auch die Datenaustausch-Funktionalitäten der Telematikinfrastruktur genutzt werden sollen. Hier bietet neben der ePA insbesondere auch die elektronische Überweisung neue Chancen.
Die Möglichkeit der Überweisung von Hausärzten zu Zahnärzten ist eine innovative Erweiterung der Versorgung.
Die Möglichkeit der Überweisung von Hausärzten zu Zahnärzten ist eine innovative Erweiterung der Versorgung und in bisheriger Regelversorgung nicht zulässig.
Natürlich ist die Versorgungsrealität ausschlaggebend für die TI-Nutzung. Die teilnehmenden Praxen sollen zur Nutzung von TI-Funktionalitäten ermuntert werden, aber es bestehen weiterhin auch analoge Alternativen zum Informationsaustausch. Insofern ermöglicht das Projekt auch eine Evaluation des digitalen und analogen Informationsaustausches im Versorgungsalltag.
TK: Sie sind Zahnmediziner und leiten ein interdisziplinäres Forschungsteam am Universitätsklinikum Heidelberg. Welche Schnittstelle der Zahnmedizin zu anderen medizinischen Fragestellungen sehen Sie über das genannte Projekt hinaus?
Prof. Listl: Eine aktuelle Resolution der Weltgesundheitsorganisation (WHO) betont die Mundgesundheit als integrales Element der Allgemeingesundheit sowie die Notwendigkeit einer diesbezüglich stärker integrierten Versorgung. Eine Vielzahl von Studien belegt das gleichzeitige Auftreten von Zahnerkrankungen und anderen Erkrankungen. Beispielsweise gibt es zunehmend Evidenz für Zusammenhänge zwischen Mundgesundheit und kardiovaskuläre Erkrankungen. Vor Kurzem konnten wir erstmals einen Kausaleffekt von Zahnverlust auf kardiovaskuläre Erkrankungen identifizieren.
Auch konnten wir zeigen, dass es einen Kausaleffekt von Zahnverlust auf das Auftreten von Depressionen gibt. Nicht zuletzt stellt der Zuckerkonsum einen gemeinsamen Risikofaktor für Zahn- und Allgemeinerkrankungen dar. Auch hier gilt es, bessere interdisziplinäre Strategien zur Gesundheitsförderung zu finden. Mein Forschungsteam befasst sich daher auch mit der Etikettierung zuckerhaltiger Nahrungsmittel und den Auswirkungen auf Gesundheit und Versorgungskosten.
Zur Person:
Prof. Dr. Dr. Stefan Listl hat an der Universität Regensburg parallel Zahnmedizin und Volkswirtschaft studiert und in beiden Fächern im Anschluss promoviert (Zahnmedizin in Regensburg, VWL in Mannheim). Im Anschluss ging er an die medizinische Fakultät des Universitätsklinikums Heidelberg (UKHD), wo er im Jahr 2012 habilitiert wurde. Derzeit leitet er die Sektion Translationale Gesundheitsökonomie am UKHD und ist zudem Inhaber des Lehrstuhls für Qualitätsförderung in der Zahnmedizin am Radboud University Medical Center in Nijmegen (Niederlande). Darüber hinaus ist er Vorsitzender der WHO-Arbeitsgruppe für kosteneffiziente zahnmedizinische Interventionen.
Das Projekt "DigIn2Perio"
Das Projekt "Digital Integrierte Versorgung von Diabetes mellitus Typ-2 und Parodontitis" - kurz "DigIn2Perio" - hat zum Ziel, eine digital unterstützte und integrierte Versorgung von Diabetes Typ-2 und Parodontitis auf den Weg zu bringen. Es wird mit 5,4 Millionen Euro aus dem Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschuss gefördert. Projektleiter ist Prof. Dr. Dr. Stefan Listl, Leiter der Sektion Translationale Gesundheitsökonomie am Universitätsklinikum Heidelberg (UKHD).
Konsortialpartner des Projekts sind das aQua-Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen GmbH, die Universitätsklinika Bonn und Düsseldorf sowie die Techniker Krankenkasse. Als Kooperationspartner für digitale Anwendungen ist die Phellow Seven GmbH am Projekt beteiligt.