„Ich bin ein Überzeugungstäter“
Interview aus Hessen
Interview mit Prof. Siegfried Bien über das erste klimaneutrale radiologische Zentrum in Deutschland.
Die Praxis von Prof. Siegfried Bien in Marburg soll das erste klimaneutrale radiologische Zentrum Deutschlands werden. Wir haben mit ihm über das Vorhaben gesprochen.
TK: Sie haben sich vorgenommen, aus Ihrer Praxis das erste klimaneutrale radiologische Zentrum in Deutschland zu machen. Mit welchen Maßnahmen wollen Sie dieses Ziel erreichen? Und wie weit sind Sie bereits in diesem Prozess?
Prof. Siegfried Bien: Seit 2017 bin ich Alleingesellschafter des radiologischen Medizinischen Versorgungszentrums (MVZ) in Marburg. Die Praxis war damals schon etwas in die Jahre gekommen, deshalb hatte ich beschlossen, unsere Einrichtung umfangreich zu sanieren. In einem ersten Schritt wurden unsere alten Geräte durch neue effizientere Geräte ausgetauscht. Außerdem wurden auf unserem Flachdach Photovoltaik-Paneele installiert. Unsere Geräte verbrauchen pro Jahr 650.000 kWh. Mit den Dach-Paneelen konnten wir bereits fünf Prozent dieses Stromverbrauchs abdecken. Immerhin war damit ein Anfang gemacht.
Gemeinsam mit einem Anbieter von Solar-Paneels sind wir dann auf die Idee gekommen, auch unsere Außenfassade mit Photovoltaik-Elementen auszustatten. Dafür hat das Unternehmen - extra für uns - biegbare Glas-Module zur solaren Stromgewinnung entwickelt.
Zeitweise schaffen wir es bereits, 40 Prozent unseres Stromverbrauchs durch Solar-Paneele abzudecken.
Als Nebeneffekt haben diese Module unser Gebäude, Baujahr 1985, auch optisch aufgewertet. Unser Haus galt in Marburg bis dahin immer als eines der hässlichsten. Zu sonnenintensiven Spitzenzeiten schaffen wir es mittlerweile durch die Paneele an der Fassade und auf dem Dach zeitweise 40 Prozent unseres Stromverbrauchs abzudecken.
Darüber hinaus ist es uns gelungen, die Klimageräte, mit denen unsere drei MRT gekühlt werden müssen, an unser Heizsystem zu koppeln, sodass wir deren Abwärme zum Heizen nutzen können. Aktuell sieht es danach aus, als würde die Abwärme dafür ausreichen, um den kompletten Heizbedarf unseres Gebäudes abzudecken. Wir haben zwar eine alte Gasheizung im Keller, die soll aber nur noch zur Sicherheit stehen bleiben. Das Ziel ist: Gasverbrauch Null! Denkbar ist sogar, dass wir künftig ein lokales Wärmenetz bilden und auch Nachbargebäuden Wärme anbieten können. Insbesondere im Sommer haben wir viel Wärmeüberschuss, da wir wenig Warmwasser brauchen.
TK: Was haben Sie in Zukunft geplant?
Prof. Bien: Derzeit werden von mehreren Entwicklungs- und Forschungseinrichtungen Folien für Fenster entwickelt, mit denen dann ebenfalls Photovoltaik möglich sein soll. Unsere neuen Fenster sind bereits so konstruiert worden, dass diese ganz leicht aufgerüstet werden können.
Ressourcenschutz ist mir bereits seit vielen Jahrzehnten wichtig.
TK: Bislang hängt es oftmals noch vom persönlichen Engagement einzelner Personen ab, ob sich eine Arztpraxis auf den Weg macht, nachhaltiger zu werden. Warum war es Ihnen persönlich so wichtig, dass sich Ihre Praxis in diesem Bereich engagiert?
Prof. Bien: Ich bin ein Überzeugungstäter! Ressourcenschutz ist mir bereits seit vielen Jahrzehnten wichtig. Geprägt hat mich die Publikation des Club of Rome: "Grenzen des Wachstums". Mir ist seitdem klar, dass wir mit unseren vorhandenen Ressourcen unmöglich weiter so umgehen können, wie bisher.
Vom CO₂-Ausstoß oder Klimawandel hat in den Siebzigern noch kaum einer gesprochen. Doch heute ist klar, dass wir auch deshalb einen neuen Umgang mit unseren fossilen Ressourcen brauchen, weil wir sonst auf eine Erderwärmung um vier bis fünf Grad zusteuern. Das ist eine Katastrophe! Wir alle müssen also dringend handeln und einen Beitrag zum Klimaschutz leisten. Auch die CO₂-Kapazität unserer Atmosphäre ist eine endliche Ressource!
Gedanklich sind wir in Sachen Klimaschutz in unserer Praxis viel weiter als die meisten anderen.
TK: Welche Unterstützung auf dem Weg zu mehr Nachhaltigkeit würden sich von außen, z. B. von Seiten der Politik oder der KV Hessen, wünschen?
Prof. Bien: Da fällt mir nichts ein. Gedanklich sind wir in Sachen Klimaschutz in unserer Praxis schon so viel weiter als die meisten anderen, wie könnten sie uns also helfen? Lediglich von Banken hätte ich mir in der Vergangenheit mehr Unterstützung gewünscht. Bei der Umsetzung meiner Pläne bin ich so manches Mal an meine finanziellen Grenzen geraten.
TK: Was würden Sie anderen Praxen raten, die sich ebenfalls nachhaltiger aufstellen wollen, aber noch ganz am Anfang ihrer Überlegungen sind und noch nicht wissen, wie sie das umsetzen können?
Prof. Bien: Ich rate dazu, sich intensiv einzulesen und sich einen guten Energieberater oder Energieberaterin zu suchen. Auch ich möchte mich ausdrücklich als Ansprechpartner für interessierte Praxisinhaber und MVZ-Betreiber anbieten. Ich berate sehr gerne alle, die sich engagieren möchten.
Zur Person
Prof. Siegfried Bien ist Facharzt für Neurologie, Psychiatrie sowie diagnostische Radiologie und Neuroradiologie. Berufsbegleitend hat er außerdem von 1996 bis 2000 Betriebswirtschaftslehre studiert. Nach mehrjähriger Tätigkeit in verschiedenen Neuroradiologien, unter anderem in Funktion als leitender Oberarzt, wechselte Bien 1995 als Direktor der Abteilung für Neuroradiologie an die Universitätsklinik Marburg. Seit 2017 ist er Alleingesellschafter und seit 2021 Geschäftsführer und ärztlicher Leiter des MVZ Diagnostikzentrums Marburg.